Andres Bosshard – Ein Leben für den Klang
Die Vögel zwitschern, das Klappern der Leinen einer Fahnenstange, ein Skateboard, das auf dem Asphalt aufschlägt, murmelnde Sportler von einer Open-Air-Fitness-Station, Musik und kreischende Kinder aus der Eishalle, ein Horn eines herausfahrenden Schiffes, das Klingeln eines Fahrrads, Glockengeläut, ...
Andres Bosshard hatte mich damit auf den Heimweg geschickt. Mal genau hinhören und zu lauschen. Ich war über die Vielfalt der Geräusche und die wahrgenommenen Dinge – denn man hört und schaut, woher der Klang kommt – überrascht. Vieles von dem, was schon immer da war, habe ich zum ersten Mal registriert, für mich entdeckt.
Andres Bosshard, der studierte Musik- und Kunstwissenschaftler, beschäftigt sich seit den 1970er-Jahren mit Musik und deren Improvisation, den Tönen und Klängen und gehört zu den international anerkannten Experten im Bereich Klangkunst und Klangarchitektur. In den letzten Jahren beschäftigt er sich intensiv mit der Frage, wie ein Ort klingt, eine Stadt und deren Umgebung, der Klang am Rande des urbanen Raums, mit der Befragung des Zivilisationsrauschens und dem lebensraumbezogenen Klang. Seine Inspiration sind die Philosophen und die Spiritualität Indiens und Japans, wo er immer wider längere Zeit verbracht und geforscht hat. Besonders die Rituale haben seine Sicht auf den Klang geweitet, und er ist der festen Überzeugung, dass der Klang etwas Rituelles braucht. So hat er der Bürgermeisterin von Essen bei einem Forum für gesunde Städte auf die Frage, „Wie kann ich den Klang meiner Stadt verändern?“, ein einfaches, aber so erweckendes Ritual an die Hand gegeben. Sie soll jeden Morgen, wenn sie das Haus verlässt, für eine Minute stehen bleiben, innehalten und lauschen. So wie er mir diese Aufgabe nach unserem Gespräch mit auf den Weg gegeben hat.
Bosshard hat viele spannende Projekt realisiert und ist eine anerkannte Koryphäe auf dem Gebiet des Klangs. Ob für die Kulturhauptstadt Europas 2017 in Aarhus, das Naturhistorische Museum in Wien oder eine Klangkarte und Klangspaziergänge für die Stadt Zürich, wo er die Teilnehmer:innen auffordert, ihre Ohren neu zu entdecken sowie ihre Fähigkeit, die Stimmen der Stadt zu hören und ihnen zu antworten. Er ist immer in Sachen Klang unterwegs und der Bedeutsamkeit einer Auseinandersetzung über die Ursachen und Auswirkungen auf die Gesellschaft, die Natur, die Gesundheit und auf jeden einzelnen von uns.
Getroffen habe ich Andres Bossard in der Remise von Schloss Seeburg in Kreuzlingen, wo er bis Ende Juli auf Einladung des Kunstraums Kreuzlingen arbeitet und forscht. „;
„Mumures hors Murs autour du Lac de Constanze“ oder „Andres Bosshards Audio-Ritte über den Bodensee“ heißt sein Projekt, mit dem der Klang-Gärtner, Klang-Architekt & Klang-Turm-Gedanken-Springer in den ehemaligen Stallungen der Seeburg und deren Umgebung forscht und dort ortsspezifische Klang- und Hörexperimente durchführt. Wir sprachen mit Andres Bosshard über sein Leben für und mit dem Klang und über seine Mitarbeit im Projekt „Ruheorte.Hörorte“ im Rahmen der Regionale 2025 im Limmattal in der Schweiz. Dort, wo das Thema Lärm, dichter Siedlungsraum, der steigende Verkehr und dessen Geräuschkulisse eine große Herausforderung für die Bevölkerung darstellt.
Herr Bosshard, Sie galten früher als schnellster Kassettenwechsler der Schweiz.
Wieso?
Ich war eine Art DJ, der mit Kassetten arbeitete. Ich schloss mehrere Kassettengeräte zusammen und bediente sie gleichzeitig. Darin erlangte ich eine gewisse Fertigkeit, das heißt, ich war sehr schnell. Ich gründete eine Band und wir spielten 15 Jahre lang sehr erfolgreich. Wir experimentierten mit Klängen und Geräuschen. Wir spielten auf Dächern, in Unterführungen, ja sogar in Bunkern. Das war in den 1980er-Jahren.
Sie sprechen von Ihrer Band «Nachtluft»?
Genau.
Was ist ein Klang?
Das Wort Klang beschreibt alle Töne, die wir gernhaben. Das Gegenteil wäre der Lärm, Töne, die uns stören. Wobei die Grenzen zwischen Klang und Lärm fließend sind. Manche mögen das Krachen eines Feuerwerks, andere können es nicht ausstehen.
Lärm könnte folglich auch Klang sein.
Natürlich. Wir sind es, die definieren, was Klang und was Lärm ist. Das legen wir als Gesellschaft fest. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man über Lärm spricht.
Ihr Leben ist verschränkt mit Klängen. Wie fühlt sich das an?
Klänge «haben» mich, und zwar immer! Ich spüre sie – beim Träumen, Aufwachen, Aufstehen, tagsüber. Klänge sind ein Universum und dieses Universum umgibt mich und verändert mich. Es begleitet mich überallhin. Klänge können Menschenstimmen sein, eine Gabel, die auf den Teller gelegt wird, oder ein Wassertropfen, der auf den Boden fällt – einfach alles. Es ist ein wunderbares Gefühl.
Besitzt ein Klang etwas, was ein Bild oder ein Wort nicht aufweist?
Ein Klang geht weiter als ein Bild oder ein Wort. Der Mensch hat die Fähigkeit, sich in den Klang hineinzuversetzen, er ist sozusagen im Klang drin. Denken wir an das Gesprochene: Wir erfassen nicht nur die Wörter, sondern auch die Tiefe oder den Rhythmus der Stimme. Das weckt Gefühle und diese Gefühle verbinden den Menschen mit dem Klang.
Sie bezeichnen sich als Klang-Gärtner. Wie kommt das?
Um die Jahrtausendwende durfte ich mit einem Gärtner des berühmten Boboli-Gartens in Florenz zusammenarbeiten. Ich merkte rasch, dass er eine besondere Haltung gegenüber Pflanzen hatte: Morgens, nachmittags und abends schaute er nach ihnen, er hegte und pflegte sie. Genau das wollte ich anschließend auch erreichen, Alltagsklänge hegen und pflegen. Das ist seither meine Maxime.
Hat es nicht auch mit Japan zu tun? Dort werden Gärtner als Künstler angesehen.
Das spielt auch eine Rolle. Die Komposition eines Gartens wird in Japan als hohe Kunst respektiert. Das kann man direkt auf Klänge übertragen, was ich auch tue. Aber ich will die Klänge nicht beherrschen. Für mich ist jeder Klang ein Wesen. Er hat mir etwas zu sagen und ich muss ihm zuhören. Ich führe ein Zwiegespräch mit ihm. Das passiert mir auch im Limmattal, soll ich das erzählen?
Bitte.
Stehe ich auf dem Altberg, erfasst mich jedes Mal das Raunen, das durch das Tal geht. Darauf muss ich mich einlassen. Ich erkenne seine Vielfalt, ich lasse es auf mich wirken und setze mich damit auseinander. Dann ist es nicht mehr bloß etwas Störendes, sondern ein Klang. Ein Fingerabdruck des Limmattals.
Was bedeuten Ihnen Stille und Ruhe?
Absolute Stille ist ein Schrecken, ich habe das zweimal erlebt. Ist die Stille aber nicht absolut, dann entdeckt man Geräusche, die man sonst überhört, und das begeistert mich. Ruhe anderseits hat mit Vertrauen zu tun. Befinde ich mich an einem Ruheort, kann ich davon ausgehen, dass kein störendes Geräusch auftaucht, kein Vorbeidonnern eines Lastwagens, kein Hochfahren eines Rasenmähers. Das Projekt «Ruheorte. Hörorte.» will solche Orte im Limmattal auf einer Karte zusammenhängend erfassen.
Ruhe gleicht also einer Einladung.
Richtig. Man darf darauf vertrauen, dass man etwas Spezielles erlebt an einem Ruheort. Ich sage hier bewusst «speziell», denn im Limmattal grenzt der Lärm aus, und das ist das Normale.
Wie meinen Sie das?
Die Schneisen für die Verkehrsachsen sind besetzte Landschaftsräume. Sie grenzen den Menschen aus. Diese Verkehrsachsen stehen für den Lärm, das Hintergrundrauschen, von dem alle reden. Das heißt, der Lärm grenzt den Menschen aus. Und wo man ausgegrenzt wird, fühlt man sich nicht zu Hause. Das ist die große Herausforderung des Limmattals!
Sie mögen den Begriff «Lärmschutz» nicht. Wieso nicht?
Das hängt damit zusammen. Lärm ist eine Tatsache. Er gehört offenbar zu der Art und Weise, wie wir gerade leben. Man kann ihn nicht hinter Lärmschutzwänden wegsperren, die notabene sehr teuer sind und wieder nur trennen. Das ist Unsinn! Wir müssen lernen, in unserer Umgebung so zu leben, dass der Lärm uns nicht gegenseitig ausgrenzt. Deshalb spreche ich von Klangraumgestaltung. Das ändert den Blickwinkel. Ich möchte alle dazu einladen, jedes Alltagsgeräusch als Klang zu begreifen und zu erleben, sodass wir diesen gemeinsamen Klangraum aktiv gestalten können. Das wäre einfach wunderbar und wir schaffen das!
Wie setzt man das um?
Ich, Andres Bosshard, habe nicht die ultimative Lösung dafür. Wie gesagt, wir müssen diese Umsetzung gemeinsam gestalten. Ich benötige die Unterstützung anderer Menschen, denn alle können etwas dazu beitragen. Wir müssen zusammenarbeiten, daraus entsteht etwas Großartiges. Das ist immer so.
Sie haben Klangspaziergänge in Dietikon durchgeführt. Was erlebt man bei einem
solchen Spaziergang?
Etwas vorweg: Die Lärmemissionen einer Stadt sind nicht naturgegeben. Es ist der Mensch, der den Lärm verursacht, und wir sind alle daran beteiligt. Dieser Lärm ist Teil des Klangs von Dietikon. Hinzu kommen andere Geräusche, natürliche Geräusche, in Dietikon etwa das Rauschen der Reppisch. Während des Spaziergangs mache ich auch auf diesen Stadtklang aufmerksam.
Sie fordern also auf, genau hinzuhören.
Nicht nur. Es geht um viel Grundsätzlicheres: Viele Menschen sind notorische Weghörer. Ihr Gehör ist darin geübt, alles wegzufiltern, was nicht benötigt wird. Sie müssen deshalb das Hinhören wiederentdecken.
Wie schafft man das?
Wir stellen uns zum Beispiel auf den Dietiker Bahnhofplatz und achten bewusst auf die Stimmen der Passanten oder die Geräusche der abfahrenden Busse. Manchmal fordere ich auf, mit Pylonen am Ohr zu hören. Das hilft, den Fokus auf bestimmte Klänge zu richten und die Tiefe des Raums wahrzunehmen.
In diesem Zusammenhang sprechen Sie von «akustischem Guthaben».
Jeder Klang gleicht einem Aktivposten dieses Guthabens. Das ist die Idee dahinter. Das lässt sich auf das Limmattal übertragen. Wir sollten seine Klanglandschaft als «akustisches Guthaben» betrachten und es für unser Wohlergehen einsetzen. Wir nehmen ja nur ei Prozent davon wahr, 99 Prozent bleiben unentdeckt. Was für eine Verschwendung!
Haben Sie deshalb die Idee eines Klangwegs durch Dietikon lanciert?
Ja. Der Klangweg wäre eine Einladung, dieses Guthaben zu nutzen. Darüber hinaus würde man die Vielschichtigkeit des Dietiker Stadtklangs erleben. Anstatt ins Auto oder in den Bus zu steigen, würde man den Weg hinunterschlendern und horchen. Das Ziel ist, den Weg akustisch so zu planen, dass er zum Erlebnis wird. Ein solches Hinhören ist erholsam, man vergisst dabei den Alltag. Viele Klänge geben obendrein Rätsel auf, denen man nachgehen kann. Jeder Mensch findet darin eine persönliche Bedeutung. Das garantiere ich!
Sie führen seit mehr als zehn Jahren Klangspaziergänge durch. Wie sehen die
Reaktionen der Teilnehmer aus?
Überraschung und Staunen sind immer dabei. Wie gesagt, wir sind Meister des Wegfilterns. Wir sind mit unseren Gedanken ganz woanders, aber nicht dort, wo wir uns gerade befinden. Beim Klangspaziergang zählt dagegen jeder Schritt; man macht einen Schritt, bleibt stehen und horcht. Das unterbricht die Hektik, die uns umtreibt. Wir gehen langsamer, denken nicht schon an das Ziel, sondern erleben das Jetzt.
Das klingt nach Zen.
Dieses Zen gibt es vor der Haustür und noch dazu gratis. Will sich das Limmattal positiv entwickeln, müssen wir aus dieser Hektik herausfinden. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Hör- und Ruheorte machen dafür einen Anfang. Es liegt an uns. Die Klänge sind da. Sie warten auf uns.
Interview © Regionale 2025