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Buch ahoi!
Die Nominierungen für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 nehmen uns mit auf eine Reise durch Raum und Zeit

In einer Online-Präsentation gab der Arbeitskreis für Jugendliteratur am 17. März 2022 die Auswahl für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2022 bekannt. Spielerisch, philosophisch, urkomisch, irritierend oder todtraurig – die nominierten Bücher nehmen uns mit auf eine Reise durch Raum und Zeit und eröffnen neue Erfahrungshorizonte.

Die Kritikerjury hat jeweils sechs Bücher in den Sparten Bilder-, Kinder-, Jugend- und Sachbuch nominiert. "Kunstvoll in Wort und Bild weisen die ausgewählten Titel eine eindrucksvolle Vielfalt auf und lassen uns neu auf das Leben und seine Möglichkeiten sehen", erklärt die Vorsitzende der Kritikerjury Prof. Dr. Karin Vach. "Sie führen uns um die halbe Welt, bis in die unendlichen Weiten des Universums, lassen die Vergangenheit gegenwärtig werden und blicken auf eine Zukunft, die wir jetzt noch verändern können."

Die sechs Favoriten der Jugendjury widmen sich der Zeit des Erwachsenwerdens und schildern emotional ergreifend die Wege junger Menschen auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Dabei thematisieren sie Angst, Trauer und Schmerz ebenso wie Freundschaft, Mut und Hoffnung. Mit "Dunkelnacht" (Oetinger) von Kirsten Boie und "Wie man eine Raumkapsel verlässt" (dtv Reihe Hanser) von Alison McGhee, in der Übersetzung von Birgitt Kollmann, liegen zwei Überschneidungen mit der Kritikerjury vor.

Die Sonderpreisjury unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Kirsten Winderlich würdigt in diesem Jahr das Werk deutscher Illustrator:innen, ihre Nominierten für den Sonderpreis "Neue Talente" sind Max Baitinger mit "Sibylla" (Reprodukt), Markus Färber mit "Fürchtetal" (Rotopol) und Mia Oberländer mit "Anna" (Edition Moderne). Mit ihren außergewöhnlichen Comics für junge Leser:innen zeigen die Bildkünstler:innen Mut, Authentizität und Innovation.

Schon seit 1956 zeichnet der Deutsche Jugendliteraturpreis jährlich herausragende Werke der Kinder- und Jugendliteratur aus. Er will die Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur fördern, das öffentliche Interesse an ihr wachhalten und zur Diskussion herausfordern. Ziel ist es, Kinder und Jugendliche mit einem breiten Literaturangebot in ihrer Persönlichkeit zu stärken und Orientierungshilfe auf einem schier unüberschaubaren Buchmarkt zu bieten. Die Auszeichnung ist mit insgesamt 72.000 Euro dotiert, die Preisträger werden am 21. Oktober 2022 auf der Frankfurter Buchmesse verkündet. Stifter ist das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Ausrichter der Arbeitskreis für Jugendliteratur. Alle Juror:innen sind ehrenamtlich tätig.      

KATEGORIE JUGENDBUCH

Krummer Hund
Juliane Pickel (Text)
Beltz & Gelberg
ISBN: 978-3-407-75875-0
14,95 € (D) , 15,40 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Jugendbuch
Ab 13 Jahren

Jurybegründung

Unkontrollierte Wutausbrüche bestimmen Daniels Leben. Vor ihm ist nichts sicher, weder Tiere noch Gegenstände, sogar Kinder greift er an. Als sein geliebter Hund Ozzy eingeschläfert werden muss und sich seine Mutter noch in der Praxis mit dem Tierarzt zu einem Date verabredet, brennen bei ihm wieder die Sicherungen durch.

Da kommt dem 15-Jährigen und seinem Freund Edgar die gemeinsame Mitschülerin Alina gerade recht, denn sie drangsaliert und tyrannisiert die gesamte Klasse. Sie wollen sich dafür rächen und schmieden zunächst Observierungspläne. Als Alinas Bruder nach einer Party angefahren und am Unfallort tot zurückgelassen wird, realisiert Daniel, dass er sich an den Abend nur noch bruchstückhaft erinnern kann. Er verrennt sich auf der Suche nach dem Täter immer tiefer in seine Anschuldigungen gegenüber dem neuen Geliebten seiner Mutter und kommt dabei Alina näher als ihm anfänglich lieb war.

Juliane Pickels Debütroman besticht durch eine raue, schonungslose Sprache. In kurzen Kapiteln schafft sie es, Wut sowie Trauer eines haltlosen Jugendlichen unsentimental und doch einfühlsam darzustellen. Pickel stellt ihren jungen Protagonisten nie bloß, schildert seine intensiven Gefühle eindrücklich und fasst die tiefe Sehnsucht nach seinem Vater in Worte. Und am Ende zeigt sie ihrem Ich-Erzähler eine lohnenswerte Perspektive.

Dunkelnacht
Kirsten Boie
Oetinger
ISBN: 978-3-7512-0053-0
13,00 € (D) , 13,40 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Jugendbuch
Ab 14 Jahren

Jurybegründung

Der Krieg ist zu Ende! – Das ist am Morgen des 28. April 1945 in der bayerischen Kleinstadt Penzberg für die einen bereits Gewissheit. Für die anderen ist es Wehrkraftzersetzung und Grund für standgerichtliche Todesurteile. Umgehend kehrt der von den Nationalsozialisten abgesetzte Bürgermeister zurück ins Amt, während die Wehrmacht das exekutiert, was sie für Recht hält. Nur 24 Stunden später haben sich in Penzberg unvorstellbare Gräuel ereignet, die Nacht geht als Penzberger Mordnacht in die Geschichtsbücher ein. Das sind die Fakten, historisch belegt.

Kirsten Boie hat diesen Fall recherchiert und zu einem bedrückenden, beinahe szenischen Kammerspiel verdichtet. In knappen Sätzen schildert sie mit schmerzhafter Präzision, wie aus Nachbarn unerbittliche Gegner geworden sind, wie ideologische Verblendung jede Menschlichkeit ausradiert. Große Geschichte spiegelt sich im Kleinen. Die beklemmende, atmosphärisch dichte Schilderung wird durch die Figuren dreier Jugendlicher, die zwischen den Fronten stehen, nochmals intensiviert. Boie gelingt ein bewegendes Stück Erinnerungsliteratur, das unter die Haut geht. Und nebenbei erfindet sich die bekannte Erfolgsautorin völlig neu.

Malagash
Joey Comeau (Text),
Tobias Reußwig (Übersetzung)
luftschacht
ISBN: 978-3-903081-51-2
18,00 € (D) , 18,00 € (A)
Originalsprache: Englisch

Nominierung 2022, Kategorie: Jugendbuch
Ab 14 Jahren

Jurybegründung

Malagash – das ist kaum mehr als ein paar Häuser an einer langen Straße. An diesen Ort kehrt Sundays Familie zurück, hier will und wird ihr Vater an Krebs sterben. Sunday, ihre Mutter, ihr Bruder Simon und die Großmutter begleiten ihn während seiner letzten Lebensphase. Wut, Trauer und die Versuche, füreinander stark zu sein, wenigstens stark zu erscheinen, wirken tief auf die Familie.

Sunday ist besessen davon, eine bleibende Erinnerung an den Vater zu erschaffen. Sie programmiert einen Computervirus, der Gedanken, Sätze, Witze, wichtige und belanglose Worte des Vaters speichert und ihn so in Code-Form fortwähren lässt, ihn überdauert. Hierzu nimmt sie eigene Gespräche mit dem Vater auf, aber auch solche, die nicht für sie bestimmt sind. Die Arbeit am Virus ist ihr persönlicher Weg, um die Trauer zu überschreiben und ihrem geliebten Vater nahe zu sein.

Die von Tobias Reußwig präzise übersetzten kurzen Kapitel zeigen in eindringlicher Sprache eine kleine Welt, die weit über die Lektüre hinaus wirkt. Malagasherzählt von der Poesie der Sprache und von der Bedeutung des Miteinander-Sprechens angesichts der Spannung zwischen individueller Vergänglichkeit und medialer Dauer.

Wie man eine Raumkapsel verlässt
Alison McGhee (Text),
Birgitt Kollmann (Übersetzung)
dtv Reihe Hanser
ISBN: 978-3-423-64071-8
12,95 € (D) , 13,40 € (A)
Originalsprache: Englisch

Nominierung 2022, Kategorie: Jugendbuch
Ab 14 Jahren

 

Der Selbstmord seines Vaters wirft den 16-jährigen Will aus der Bahn, anfänglich sind Verdrängung und Vermeidung alleinige Bewältigungsstrategien. Er beginnt, seine Gedanken beim stundenlangen Laufen zu sortieren, fokussiert sich darauf, geliebten Menschen in seiner Umgebung eine Freude zu bereiten, sie im Blick zu behalten. So auch seine Freundin Playa, die er bereits aus Grundschultagen kennt. Playa wird auf einer Party vergewaltigt, Wills tiefe Verbundenheit zu dem Mädchen lässt ihn aktiv werden. An 100 aufeinanderfolgenden Tagen wird er ihr ein Geschenk vor die Tür stellen, immer mit einem der Leitsätze seines Vaters: „Don’t let the bastards get you down.“

Alison McGhee rückt nicht nur einen feinfühligen Jugendlichen in den Mittelpunkt, sondern neben der Musik von David Bowie auch die Zahl Hundert. In 100 Kapiteln mit je 100 Wörtern lässt sie einen beeindruckenden sprachlichen Sog entstehen, erzeugt in der Kürze einen enormen Spannungsbogen voller Rhythmus und Sound. Für die einfühlsame Übersetzung zeichnet Birgitt Kollmann verantwortlich. Auch sie hat sich streng an die Vorgabe der 100 Wörter gehalten und gibt Will in leisen Worten eine laute Stimme.

Sanctuary
Flucht in die Freiheit
Abby Sher (Text),
Paola Mendoza (Text),
Stefanie Frida Lemke (Übersetzung)
Carlsen
ISBN: 978-3-551-58441-0
15,00 € (D) , 15,50 € (A)
Originalsprache: Englisch

Nominierung 2022, Kategorie: Jugendbuch
Ab 14 Jahren

 

Jurybegründung

Die USA im Jahr 2032 – eine dystopische Zukunft? Ja, die Überwachungstechnologie ist weit fortgeschritten, alle Dokumentierten tragen einen ID-Chip. Ja, die Abschottung gegenüber Flüchtenden an der Südgrenze ist durch eine Mauer manifestiert. Ja, die Undokumentierten, die als Illegale gelten, werden gejagt und interniert. Ja, die USA haben das liberale Kalifornien aus dem Staatenverbund ausgeschlossen. Und zugleich: Nein, denn die wenigen Jahre, die dieser Roman unserer Wirklichkeit voraus hat, zeigen im Kern eine Welt, in der sich die Gegenwart konsequent weiterentwickelt hat.

In dieser Welt kämpft die 16-jährige Vali um das nackte Überleben. Die Mutter ist bereits verhaftet, Vali und ihr kleiner Bruder fliehen durch ein feindliches Land. Sie schließen sich einer Gruppe an, auf dem Weg ins rettende Kalifornien. Sie erleben, was Ausgrenzung und Verachtung bedeuten, erfahren aber auch Solidarität und Hilfe. In klarer, nahezu harter Sprache, treffend übersetzt von Stefanie Frida Lemke, öffnet der Roman ein Fenster in eine nahe Zukunft, die hoffentlich so nicht eintreffen wird.

Die Nacht so groß wie wir
Sarah Jäger (Text)
Rowohlt
ISBN: 978-3-499-00574-9
18,00 € (D) , 18,50 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Jugendbuch
Ab 15 Jahren

Jurybegründung

Eine letzte gemeinsame Nacht, Höhepunkt und Abschluss der Schullaufbahn – die Abifeier in der Turnhalle. Mittendrin Suse, Pavlow, Bo, Maja und Tolga, fünf langjährige Freunde, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie alle haben Ziele, Träume und Ideen, die anschließend auf sie warten werden. Noch diese Nacht, dann steht ihnen die Welt offen. Sie soll etwas Besonderes werden, aber alles wendet sich anders als erwartet: Geheimnisse kommen ans Licht, Wahrheiten werden ausgesprochen, Beziehungen aufgelöst. Alles eskaliert, nichts wird nach der Nacht sein wie zuvor.

Sarah Jäger nimmt die Lesenden durch wechselnde Erzählperspektiven direkt mit hinein in ihr fragiles Figurenensemble. Die jugendlichen Protagonist:innen zeichnet sie als starke Persönlichkeiten, die am Wendepunkt ihres Lebens stehen. Von Beginn an mitreißend, entfaltet Jäger einen großen Spannungsbogen mit unvorhersehbaren Entwicklungen. Mittels temporeicher Dialoge, Situationskomik und Wortwitz, bisweilen auch in melancholischer Sprache, lässt sie uns teilhaben an diesem entscheidenden Moment des Übergangs. Erneut beweist sich Sarah Jäger als eine genaue Beobachterin, der die jungen Erwachsenen sehr nahe sind.

KATEGORIE PREIS DER JUGENDJURY

Wie man eine Raumkapsel verlässt
Alison McGhee (Text),
Birgitt Kollmann (Übersetzung
dtv Reihe Hanser
ISBN: 978-3-423-64071-8
12,95 € (D) , 13,40 € (A)
Originalsprache: Englisch

Nominierung 2022, Kategorie: Preis der Jugendjury
Ab 12 Jahren

Jurybegründung

Will ist 16, lebt mit seiner Mutter in Los Angeles und denkt viel nach: über den Selbstmord seines Vaters und über die Vergewaltigung seiner besten Freundin. Aber auch über die unsichere soziale Situation seines Chefs im One-Dollar-Store, über einen Obdachlosen, der sich „Superman“ nennt und über den kleinen Jungen, der jeden Tag im Garten auf das Auftauchen von Schmetterlingen wartet. All dies wird in 100 kurzen Texten offenbart, die jeweils rechts auf einer Doppelseite stehen. Links findet sich stets die Zahl des Kapitels in Form eines asiatischen Schriftzeichens. Die Geschichte wirkt wie eine Sammlung von Gedanken, Erinnerungen und Ereignisschilderungen. Diese fügen sich im Laufe des Lesens zusammen und ergeben nach und nach ein Bild von Wills Leben. Die kurzen, klaren Sätze in der feinfühligen Übersetzung von Birgitt Kollmann kommen ohne vordergründige Dramatik aus. Der Text überzeugt uns durch genau diesen Verzicht und schafft damit Raum für die Beobachtungen eines sensiblen Protagonisten, der seinen Platz in der Welt sucht.

Die beste Zeit ist am Ende der Welt
Sara Barnard (Text),
Hanna Christine Fliedner (Übersetzung)
Arctis
ISBN: 978-3-03880-046-0
19,00 € (D) , 19,60 € (A)
Originalsprache: Englisch

Nominierung 2022, Kategorie: Preis der Jugendjury
Ab 14 Jahren

Jurybegründung

Peyton, 17, Mobbingopfer mit Hang zu falschen Freunden, steht allein am anderen Ende der Welt, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Was sind Freunde, falsche und richtige? Das ist die überlebenswichtige Frage, als sie sich spontan einem bunten Trupp Reiselustiger bei einem Trip durch Kanada anschließt. Idyllische Landschaften wechseln sich ab mit Flashbacks aus Peytons letztem Collegejahr in England. Psychische Verletzungen, die ihr Umfeld als erduldbares Mobbing abtat, und ihr Wunsch nach Freunden trieben sie damals erst in falsche Gesellschaft und dann zur Flucht.

Stimmig verzahnt Sara Barnard die Zeitebenen. Peytons Rückblicke haben den erforderlichen Abstand zur eigenen Person, der eine für ein Jugendbuch ungewöhnliche Eigenanalyse möglich macht. Ihre Reflexionen lassen Peyton an sich selbst wachsen, Mut gewinnen und selbstständig werden. Dadurch spiegelt die Autorin treffsicher das Erwachsenwerden vieler Jugendlicher wider. Sensibel und realistisch thematisiert sie Einsamkeit, Verlustangst, Schuld und Enttäuschung. Verschiedene Facetten von Freundschaft werden durch differenziert ausgearbeitete Charaktere beleuchtet. Hanna Christine Fliedner gibt in ihrer Übersetzung Schmerz, Traurigkeit und Glück mit klarer Eleganz den richtigen Klang.

Dunkelnacht
Kirsten Boie (Text)
Oetinger
ISBN: 978-3-7512-0053-0
13,00 € (D) , 13,40 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Preis der Jugendjury
Ab 14 Jahren

 

Jurybegründung

Als einer von vielen Orten fällt – zwei Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges –Penzberg in Bayern den letzten Grausamkeiten der Nazis zum Opfer. Sehr eindrücklich werden die Ereignisse einer einzigen Nacht geschildert, in welcher der Volkssturm noch einmal gnadenlos Jagd auf alle macht, die nicht in das Bild der Nazis passen. Die fiktiven Jugendlichen Marie und Schorsch müssen mit den anderen Bewohnern das Grauen und die Willkür miterleben.

In ihrem Roman beleuchtet Kirsten Boie mit den Endphasenverbrechen einen Aspekt des Zweiten Weltkrieges, der vielen eher unbekannt ist. Dabei wechselt das Buch zwischen unterschiedlichen Perspektiven, was hilft, verschiedene Sicht- und Denkweisen der Charaktere zu verstehen. Dunkelnacht unterscheidet sich von anderen Büchern zu diesem Themenbereich durch einen schonungslosen Schreibstil, die sowohl aus Opfer- als auch aus Täterperspektive geschilderten Ereignisse, den engen zeitlichen Rahmen und eine dadurch gut aufgebaute Spannung.

Kirsten Boie hat sich dazu entschieden, die echten Namen der Opfer und der Täter zu benutzen, wodurch das Buch sehr authentisch und real wirkt. Auch wenn etwas geschichtliches Hintergrundwissen benötigt wird, ist Dunkelnacht eine absolute Leseempfehlung.

Das Geheimnis meines Turbans
Als Junge verkleidet unter den Taliban
Agnès Rotger (Text),
Nadia Ghulam (Text),
Silke Kleemann (Übersetzung)
cbj
ISBN: 978-3-570-31378-7
10,00 € (D) , 10,30 € (A)
Originalsprache: Spanisch

Nominierung 2022, Kategorie: Preis der Jugendjury
Ab 14 Jahren

Jurybegründung

Nadia Ghulam, Autorin dieser Autobiografie, ist noch ein Kind, als in ihrer Heimat Afghanistan der Krieg ausbricht. Bei einem Bombenangriff wird sie schwer verletzt und entstellt. Sie verliert ihren Bruder und sieht mit an, wie ihr Vater den Verstand verliert. Mit elf Jahren steht Nadia schließlich als Alleinversorgerin der Familie da, als Junge verkleidet, denn die Taliban verbieten Frauen das Arbeiten.

„Ein beeindruckender Appell gegen die Unterdrückung von Frauen und Mädchen“, heißt es auf der Buchrückseite – zu Recht. Nadia Ghulam schreibt über all die Missstände, die seit der Machtübernahme der Taliban in den 1990ern im Land herrschen: Schulverbot für Mädchen, Arbeitsverbot für Frauen, Pflicht zum Tragen der Burka, fehlende medizinische Versorgung. Zusammen mit ihrer Co-Autorin Agnès Rotger führt sie in von Silke Kleemann übersetzten, kurzen und einfühlsamen Sätzen durch eine Kindheit, die für Jugendliche in Deutschland unvorstellbar ist. Deshalb ist es umso wichtiger, sich darüber zu informieren, wie Kinder in anderen Teilen der Welt leben (müssen). Gerade vor dem Hintergrund der neuesten Entwicklungen in Afghanistan ist dieses Buch relevanter denn je.

Birthday
Eine Liebesgeschichte
Meredith Russo (Text),
Anne Brauner (Übersetzung),
Susanne Klein (Übersetzung)
Loewe
ISBN: 978-3-7432-0973-2
16,95 € (D) , 17,50 € (A)
Originalsprache: Englisch

Nominierung 2022, Kategorie: Preis der Jugendjury
Ab 14 Jahren

 

Jurybegründung

Ein Geburtstag, zwei Freunde – Morgan und Eric. Sie teilen nicht nur den Geburtstag, sie verbindet auch eine tiefe Freundschaft und sie können sich alles erzählen. Als Morgan bewusst wird, dass er im falschen Körper geboren wurde und eigentlich ein Mädchen ist, will und muss sie aber erst einmal selbst damit klarkommen. Aufbau und Erzählweise von Meredith Russos Roman, übersetzt von Anne Brauner und Susanne Klein, sind faszinierend: Das Buch ist in sechs Teile gegliedert, die über sechs Jahre jeweils einen Geburtstag der Freunde beschreiben, beginnend mit dem 13. und endend mit dem 18. Es wird aus beiden Perspektiven berichtet, dadurch können die Leser:innen die Entwicklung, Gefühle und Gedanken von Morgan und Eric nahezu ungefiltert mitverfolgen. Sehr realistisch beschreibt die Geschichte Situationen, in denen man sich wünscht, in das Geschehen eingreifen zu können. Das Buch ist unglaublich spannend zu lesen und es ist so viel mehr als ein klassischer Liebesroman. Es geht um Trauer, Freundschaft, Mobbing und Familie, mit allen Rückschlägen und Erfolgen, Ängsten und Hoffnungen der Beteiligten. Morgans und Erics Geschichte ist intensiv, schmerzvoll und berührend. Die Leser:innen werden emotional mitgerissen – ein wirklich authentisches und wunderschönes Buch!

Hard Land
Benedict Wells (Text)
Diogenes
ISBN: 978-3-257-07148-1
24,00 € (D) , 24,70 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Preis der Jugendjury
Ab 15 Jahren

 

Jurybegründung

Missouri, 1985. Als der 15-jährige Sam in einem alten Kino zu jobben beginnt, bricht für ihn ein Sommer an, der alles verändern wird. Zwischen Popcorn und flimmernden Leinwänden trifft er auf neue Freunde, die ihn aus der Starre des verschlafenen Örtchens Grady befreien und schnurstracks ins Erwachsenwerden katapultieren. Es ist ein Sommer, der ihm die erste Liebe und den ersten Verlust bringt, ein Sommer voller Abenteuer und Schmerz, voller Ängste und neuer Träume. Ein Sommer, der mitsamt seinen Schattenseiten eine Liebeserklärung an die Jugend ist.

Sams Freundin Kirstie erfindet den Begriff „Euphancholie“ als Beschreibung eines Zustands, in dem die Euphorie eines glücklichen Augenblicks von seiner lauernden Vergänglichkeit überschattet wird und melancholisch stimmt – ein Wort, das diesen Coming-of-Age-Roman nicht besser beschreiben könnte: Gleichermaßen verspielt wie melancholisch wirft Hard Land uns in eine Zeit der „99 Luftballons“ und verträumten Sommertage zurück und schafft dabei mit seinen lebendigen und witzreichen Charakteren eine Atmosphäre, die bis zur letzten Seite an Grady und dessen 49 Geheimnisse fesselt.

KATEGORIE SACHBUCH

Von Moskau nach Wladiwostok
Eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn
Alexandra Litwina (Text),
Anna Desnitskaya (Illustration),
Lorenz Hoffmann (Übersetzung),
Thomas Weiler (Übersetzung)
Gerstenberg
ISBN: 978-3-8369-6129-5
26,00 € (D) , 26,80 € (A)
Originalsprache: Russisch

Nominierung 2022, Kategorie: Sachbuch
Ab 8 Jahren

Jurybegründung

Die Welt, die Alexandra Litwinas Sachbuch zeigt, ist uns sehr fern. Umso betörender wirken der Detailreichtum des großformatigen Bandes, die Informationsvielfalt, die beeindruckende Art der Illustration von Anna Desnitskaya. In den flächigen Bildtafeln werden Impressionen über Land und Menschen lebendig, in aufwändiger Vorarbeit gesammelt, um alle Gegebenheiten so original wie möglich zu spiegeln.

Mit einer dreiseitigen Karte, zugleich Vorsatzpapier und Inhaltsverzeichnis, startet die faszinierende Reise über 174 Stunden und 9.288 Kilometer durch halb Europa und Asien. In ausgewogenem Wechsel folgen prall gefüllte Doppelseiten, mal mit Blick in die Abteile, mal auf Stationen der Fahrt. Dazu mischen sich in Zeichnung und Begleittext (übersetzt von Lorenz Hoffmann und Thomas Weiler) viele Einzelheiten. Landschaften, Städte, Geschichte, Kultur, Flora, Fauna, Kulinarik und russische Vokabeln fügen sich zu einer Gesamtschau. Der Anhang liefert Begriffs- und Personenerklärungen, einen Blick auf das kyrillische Alphabet und die Anbindung der Transsib ans europäische Bahnnetz. Das Buch ist ein Brückenbauer im besten Sinn des Wortes.

Hunde im Futur
Eine Grammatik in Bildern
Johannes Rieder (Text),
Susanna Rieder (Text),
Arinda Crăciun (Illustration),
Carsten Aermes (Gestaltung)
Susanna Rieder
ISBN: 978-3-948410-21-6
30,00 € (D) , 31,00 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Sachbuch
Ab 8 Jahren

 

Jurybegründung

Das witzige Coverbild eines schwanzwedelnden weißen Hundehinterteils auf blauem Grund gibt Rätsel auf, dazu der Titel Hunde im Futur. Eine Grammatik in Bildern. Die Neugier ist geweckt. Geht es hier wirklich um Grammatik, das trockene Regelsystem von Sprache, das gewöhnlich kaum zu Begeisterungsstürmen hinreißt? Dieses Buch beweist nicht nur das Gegenteil: Es ist ein Schatz, der seinesgleichen sucht.

Die Einführung in die Grammatik der deutschen Sprache arbeitet in höchstem Maß ideenreich, sowohl die unverschulte Inhaltsaufbereitung wie auch die herstellerische Raffinesse betreffend. Beides geht eine vollkommene Verbindung ein. Jede der farbigen Doppelseiten ist als Ausklapper angelegt, der einen direkten „Einblick“ ins Seitenthema bietet. Solch spielerisches, haptisches „Begreifen“ führt zu schönen, oft selbsterklärenden Ergebnissen. Fast alle Wortarten, Fälle, Zeiten, Satzglieder und Satzarten werden auf diese Weise durch handillustrierte Zeichnungen vorgestellt, ja, manchmal sogar bildlich in Aktion gebracht. Einfallsreichtum pur, der Lust macht, über Sprache nachzudenken.

Sehen
Andrij Lessiw (Text),
Romana Romanyshyn (Text),
Romana Romanyshyn (Illustration),
Claudia Dathe (Übersetzung)
Gerstenberg
ISBN: 978-3-8369-6050-2
20,00 € (D) , 20,60 € (A)
Originalsprache: Ukrainisch

Nominierung 2022, Kategorie: Sachbuch
Ab 8 Jahren

Jurybegründung

Eindrucksvoll, farbstark und pointiert zeigt das ukrainische Grafikerpaar Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw, dass Sehen mehr ist als visuelle Sinneswahrnehmung. In plakativen, inspirierenden Grafiken und knappen, von Claudia Dathe treffend übersetzten Texten breiten sie die Welt des Sehens in ihren unterschiedlichen Facetten aus, verknüpfen beinahe spielerisch naturwissenschaftliche und philosophische Fragestellungen. Die Annäherung an das Sehen reicht von Aufbau und Funktionsweise des Auges, über Sehschärfe, Farbspektren, Brillen, optische Geräte wie Mikroskope oder Teleskope, optische Täuschungen bis hin zum Sehvermögen von Tieren. Auch die Frage danach, wie wir Kunst und Natur, ja sogar Imagination und Träume, wahrnehmen, wird gestellt. Und wie ist es eigentlich, wenig oder nichts zu sehen?

All diese Themen sind in poppigen Sonderfarben vom Buchumschlag bis zu Vor- und Nachsatzpapier sorgsam durchkomponiert. Das Aufsehen erregende Sachbuch ist Aufforderung und Ermutigung, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sich mit Fragen der (eigenen) Wahrnehmung zu beschäftigen.

Damals der Dodo
Vom Aussterben und Überleben der Arten
Isabel Pin (Text),
Isabel Pin (Illustration),
Martin Zwilling (Übersetzung)
Karl Rauch
ISBN: 978-3-7920-0374-9
25,00 € (D) , 25,70 € (A)
Originalsprache: Französisch

Nominierung 2022, Kategorie: Sachbuch
Ab 10 Jahren

Jurybegründung

Das bibliophil wirkende Großformat Damals der Dodo lädt ein zu einer Themenreise durch die Zeit. Im Zentrum steht der exotisch anmutende, die Phantasie beflügelnde Dodo. Wo genau lebte er? Speiseplan? Flugfähigkeiten? – All das wird geklärt und zugleich als Vorlage benutzt, um auf andere ausgestorbene und bedrohte Arten aufmerksam zu machen. Inhaltlich meistert das Buch Hunderte von Jahren Natur- und Kulturgeschichte, die hier zu einem eindrucksvollen Rundumblick verschmelzen. Geschickt werden Biologie, Ornithologie, Paläontologie und Historie verwoben und um biografische Notizen zu Forschenden und Sammler:innen erweitert. So wird ein umfangreiches Wissenspaket geschnürt, das bis in unsere Zeit führt und in eine Karte gefährdeter Arten mündet. Brillant, wie das Buch Warnsignale setzt, ohne zu moralisieren, wie der Reflexionshorizont unaufdringlich geweitet wird.

Damals der Dodo ist ganz und gar durch die Künstlerin Isabel Pin geprägt. Filigran gezeichnete Illustrationen, mal nur mit zart schwarzem Strich auf dem vergilbt wirkenden Papier entworfen, mal mit Tuschefarben unterlegt, begeistern durch Charme und Abwechslungsreichtum. Parallel dazu fließt ein leichter, spannender Lesetext, übersetzt von Martin Zwilling.

Das Weltall
oder Das Geheimnis, wie aus nichts etwas wurde
Jan Paul Schutten (Text),
Floor Rieder (Illustration),
Verena Kiefer (Übersetzung)
Gerstenberg
ISBN: 978-3-8369-6038-0
26,00 € (D) , 26,80 € (A)
Originalsprache: Niederländisch

Nominierung 2022, Kategorie: Sachbuch
Ab 13 Jahren

Jurybegründung

Das Weltall – unendliche Weiten und eine schier endlose Fülle an Wissen. Exakt „523 außergewöhnlich wissenswerte Dinge“ und komplexe Zusammenhänge greift Jan Paul Schutten aus diesem Kosmos heraus, holt sie mit einem Augenzwinkern ins Hier und Jetzt. Staunend folgt man seinen Ausführungen und Gedankenexperimenten durch (Welt-)Raum und Zeit. Mit Humor und einer durchaus selbstironischen, selbstkritischen Erzählhaltung gelingt es dem Niederländer, aktuelle Forschungsergebnisse, physikalische Zusammenhänge und philosophische Ansätze mit treffenden Vergleichen und Sprachbildern verständlich zu beschreiben und zu erklären. Im Zusammenspiel mit den außergewöhnlichen Illustrationen von Floor Rieder, die dem umfangreichen Text kommentierend und erklärend zur Seite stehen, sowie der überzeugenden Übersetzung von Verena Kiefer, dem gelungenen Layout und der hochwertigen Ausstattung ist dieses Sachbuch ein Gesamtkunstwerk. Es fordert gleichermaßen zum Schmunzeln wie zur kritischen Reflexion heraus und hebt sich ab von anderen Büchern zum Thema.

Der Duft der Kiefern
Meine Familie und ihre Geheimnisse
Bianca Schaalburg (Text),
Bianca Schaalburg (Illustration)
avant
ISBN: 978-3-96445-058-6
26,00 € (D) , 26,80 € (A)
Originalsprache: Deutsch

Nominierung 2022, Kategorie: Sachbuch
Ab 14 Jahren

 

Jurybegründung

Kann es stimmen, was Großmutter Else behauptet: „Wir. Wussten. Von. Nichts.“? Von der Verfolgung, Enteignung, Deportation und systematischen Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs will sie erst viel später erfahren haben. Und der Großvater? War er ein Mitläufer oder doch ein überzeugter Täter? Es sind sehr persönliche Fragen, denen Bianca Schaalburg in ihrer autobiografischen Graphic Novel beharrlich nachspürt. Doch gelingt gerade über die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte eine tiefgreifende Beschäftigung mit historischen Ereignissen: Geschickt bettet die Künstlerin ihre Nachforschungen, die selbst wesentlicher Teil der dokumentarisch angelegten Erzählung sind, wie auch die gewonnenen Erkenntnisse in den jeweiligen zeitlichen Kontext ein und legt so ein erstaunliches Geflecht an Unwahrheiten, Unwissenheit und Verdrängung offen. Sorgfältig recherchierte Erläuterungen und Hintergrundinformationen, die in den Bildern, Textpassagen sowie in einem umfangreichen Anhang präsentiert werden, runden die facettenreiche grafische Erzählung ab. Sie helfen, Geschichte im Kleinen wie im Großen zu rekonstruieren und zu erfassen. Der Duft der Kiefern ist so weit mehr als ein Stück persönlicher Erinnerung – es ist ein Beitrag gegen das Vergessen.