INTERVIEW MIT THOMAS GERWIN
Wer oder was ist Thomas Gerwin?
Komponist, Klangkünstler und Kurator.
Wie kamen Sie zur Klangkunst und der Neuen Musik?
Ich begann autodidaktisch ganz früh, mit allem Möglichen und Unmöglichen Klang und Musik zu erzeugen. Als ich zehn Jahre alt war, kam dann die Gitarre als reguläres Musikinstrument dazu. Es folgten diverse Erfahrungen und Studien mit der geliebten Gitarre, aber auch anderen Instrumenten und Klangerzeugern in ganz unterschiedlichen Spiel-Kombinationen und in verschiedensten, bei mir immer irgendwann experimentellen Musikstilen, anschließend ein Studium der historischen Musikwissenschaft und Linguistik (MA) in Tübingen und anschließend noch ein Aufbaustudium Hauptfach Komposition mit Nebenfach Elektronik bei Erhard Karkoschka und Uli Süße in Stuttgart. Dabei bot mir die Neue Musik, nachdem ich sie einmal entdeckt hatte, immer am ehesten Basis und Heimat für meine verschiedenen Experimente. Musik machen und erfinden ist für mich nicht nur der sinnliche Genuss am gestalteten Klang, sondern auch eine ständige Forschungsarbeit an bestimmten, sich immer weiterentwickelnden ästhetischen Themen.
Was fasziniert Sie am Klang und den Möglichkeiten und Ausdrucksformen der Musik?
Klang (konkreter, instrumentaler oder auch elektronischer) wendet sich direkt über Schwingung im Raum an das Nervensystem und wirkt daher sofort, unmittelbar und unbewusst stark emotional und motorisch. Gleichzeitig wird diese Schwingung vom Ohr aufgenommen und vom Gehirn interpretiert und kann dadurch auch intellektuell verarbeitet werden. Geformter und raumzeitlich organisierter Klang, also Musik im weitesten Sinne, kann eine wunderbare, abstrakte Architektur erschaffen, jede Art von Geschichte erzählen, überwältigen oder die feinsten emotionalen Nuancen erzeugen, Erbauung, Wissen oder auch nur Vergnügen vermitteln – und ist damit eines der stärksten künstlerischen Ausdrucksmittel überhaupt.
Was findet man auf der von Ihnen erstellten KlangWeltKarte?
Die „KlangWeltKarte“ entwickelte ich 1997 für das Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe. Sie war die erste interaktive und bespielbare Soundscape-Karte – klangliche Dokumentation von insgesamt 210 einzelnen Orten auf der Welt und dabei gleichzeitig elektronisches Musikinstrument für authentische Originaltöne. Im Vorfeld habe ich in Deutschland und international normale Alltagssituationen ganz vieler Orte aufgenommen, gleichzeitig gab es verschiedene Internet-Aktionen und Anfragen an Musiker:innen weltweit, ihre alltägliche Klangumgebung aufzunehmen und mir zu schicken. Daraus komponierte ich im Studio kurze Klangporträts verschiedener Orte sowie von „Regionen“, die aber geografisch, nicht politisch definiert sind. Auf drei großen, eigens dafür entwickelten Spieltischen können nun die Besucher:innen des ZKM-Medienmuseums selbst mit diesen Originaltönen spielen, sie mischen oder in Beziehung setzen, eine eigene „Klang-Welt-Symphonie“ erschaffen. Mehr Informationen dazu sowie ein kleiner Film sind auf meiner Website und der des ZKM Karlsruhe zu finden.
Was macht der Klang mit einem Ort, ein Ort mit dem Klang?
Jeder Ort hat seinen ganz spezifischen Klang, der mit der Architektur, der geografischen Lage, dem Klima und vor allem mit den Menschen zusammenhängt, die dort leben. Der ihn ständig umgebende Klang der Umwelt hat starke Auswirkungen auf die Gesundheit und das Lebensgefühl, wobei der Mensch den allergrößten Teil des Alltagsklangs sogar selbst verursacht. Der kanadische Komponist R. Murray Schafer hat Anfang der 1970er-Jahre mit einem Aufsatz (später mit seinem Buch „The Tuning of the World“) die Aufmerksamkeit auf diesen fundamentalen Zusammenhang gelenkt und damit die mittlerweile weltweite Bewegung der „akustischen Ökologie“ ins Leben gerufen. Aus diesen Gedanken ergibt sich übrigens auch eine ganz besondere Verantwortung der Musikschaffenden – eben nicht nur, dem allgegenwärtigen riesigen Geräuschpegel unserer Welt immer noch neue Klänge und Musik hinzuzufügen – sondern das nur ganz bewusst und überlegt zu tun für bestimmte Situationen. Wir leben mittlerweile in einer regelrechten akustischen Umweltverschmutzung. Da kann es auch manchmal die Aufgabe eines Komponisten sein, einmal Stille zu ermöglichen oder eine ganz ruhige, fokussierte Hörsituation zu erschaffen.
Welcher Ort hat für Sie den schönsten Klang und welcher Ort ist ein klangliches Desaster?
Mittlerweile gibt es verschiedenste Untersuchungen über den Soundscape; in Vancouver gibt es an der Universität einen Lehrstuhl für Acoustic Ecology. Eine gesunde Klanglandschaft hat eine ausgewogene Balance aus laut und leise, aus viel und wenig Klangereignissen, aus Klängen der Natur und Klängen des Menschen. Maschinelle Klänge sind oft viel zu laut und enervierend monoton, außerdem bieten sie allermeist nicht den Obertonreichtum und die Klangbreite eines natürlichen Klangs. Sinustöne z.B. kommen in natürlichen Soundscapes nicht vor und quälen unser auf reiche Klänge ausgerichtetes Trommelfell.
Sie sind Initiant und Veranstalter von zahlreichen Musikformaten im Bereich Neue Musik und Klangkunst. Eines davon ist das intersonanzen Festival, das in diesem Jahr zum 22. Mal stattfindet. Seit 2017 sind Sie in Potsdam und Brandenburg tätig. Was passiert bei den intersonanzen?
Das Brandenburgische Fest der Neuen Musik, intersonanzen, ist das große jährliche Festival des Landesverbands für Neue Musik BVNM e.V. Es gibt dort seit mehr als 20 Jahren an einem Wochenende ein Festival mit wunderschönen Uraufführungen brandenburgischer Komponist:innen. Seitdem ich 2017 die künstlerische Leitung übernahm, findet dazu eine Begleitausstellung statt mit Partiturseiten jedes beim Festival aufgeführten Werkes sowie verschiedenen, teils großen Klangkunstarbeiten. Außerdem gibt es nun regelmäßig ein Symposium sowie „Brücken-Konzerte“, bei denen einzelne Konzerte auch noch an anderen Orten aufgeführt werden. Dieses Jahr kommt noch ein Workshop mit Studierenden und Musikschülern sowie eine „RadKlangTour“ dazu. Dies alles wird, wie die Konzerte selbst, dramaturgisch und inhaltlich in Bezug auf das jeweils aktuelle Festival-Thema bezogen. Das Festivalthema 2022 lautet kurz und etwas geheimnisvoll>eigenWelten. Im Idealfall erschafft jedes neue Werk für die Hörenden/Erlebenden eine ganz eigene künstlerische Welt mit eigenem Charakter, Regeln und Lebensgefühl. Dies umso mehr in der Neuen Musik, die ja die stetige Suche nach klingendem Neuland als wichtigen Teil ihrer Philosophie und Tradition besonders pflegt und fördert. Dazu gehören auch unterschiedliche neue Hörformate, mit denen ich seit Langem experimentiere. Das Festival 2022 wird dazu Fragen stellen wie: Was für eine Welt mit welcher Philosophie, mit welchen Regeln ist hier genau entstanden? Was ist fremd an ihr, was vertraut? Wie ist die Dramaturgie meines Aufenthalts in ihr, wie betrete und wie verlasse ich sie wieder? Wie vergeht in der anderen Welt die Zeit? Langsamer, schneller oder verändert sie gar ihre Geschwindigkeiten? Wie geschieht dies und aus welchem künstlerischen Grund? Was bleibt nach diesem Besuch, nach der neuen Erfahrung? Können wir etwas mitnehmen für unsere reale tägliche Lebenswelt? Wie verhalten sich die verschiedenen erlebten Welten zueinander im speziellen Kontext des Festivalprogramms?
Diesen und anderen Fragen soll bei den intersonanzen 2022 nachgegangen werden – in Gespräch und Reflexion, vor allem aber im berührenden Erleben der klingenden Kunst live und vor Ort. Renommierte Musiker:innen und Ensembles wie das „Max-Brand-Ensemble“ aus Wien, das „Bremer Schlagzeugensemble“, das „Gitarren-Duo Conradi/Gehlen“, die Sopranistin Claudia Herr, das „Ensemble JungeMusik“, „Partita Radicale“ aus Wuppertal, das BVNM ad hoc Ensemble“, ein Trio der „Kammerakademie Potsdam“ u.a. präsentieren neueste Musik aus Brandenburg im Kontext internationalen Repertoires.
Zum Schluss noch ein persönliches Wort: Das Brandenburgische Fest der Neuen Musik 2022 erschafft natürlich auch selbst temporär eine >eigenWelt der klingenden Kunst und versucht damit, der aktuell so negativ aufgeladenen Realität künstlerisch-ästhetisch Konstruktives positiv entgegenzusetzen.