Bern (CH)
Musikfestival Bern
Verwurzelungen
Indem es lokale Kräfte bündelt und sie in einen internationalen Vergleich stellt, hat das Musikfestival Bern im Lauf der letzten zehn Jahre sein unverwechselbares Gepräge entwickelt. Diesen September fragt es nach unseren Wurzeln und bietet dazu ein vielfarbiges Programm.
Das mathematische Wurzelzeichen steht heuer als «Thema» über dem Programm des Musikfestival Bern. Manch jemand wird dabei zunächst an mathematische Operationen denken, aber gleichzeitig öffnen sich dahinter auch imaginäre (Zahlen-)Räume und weiterführende Fragen und Assoziationen. Wo liegt unser Ursprung, wie tief reichen unsere Wurzeln: Biologisch, kulturell und musikalisch, biographisch? Wie gehen wir damit um? Gerade heute?
Die Themen, die sich das Musikfestival Bern alljährlich gibt, sind mehrdeutig und lassen einen weiten Bedeutungsraum offen. Mit «Irrlicht», «Schwärme» oder «unvermittelt» waren frühere Jahrgänge überschrieben. Dazu können jeweils Musikschaffende aus Stadt und Kanton Bern ihre Projektentwürfe eingeben. Das vierköpfige Kuratorium, welches das Festival künstlerisch leitet, wählt daraus mehrere Konzepte aus, ergänzt sie mit eigenen Ideen und gestaltet damit ein Programm. Der Spielraum reicht dabei von Konzerten mit improvisierter und komponierter Musik und Musiktheater über Installationen und Performances bis hin zu Filmen und Diskussionsveranstaltungen. Die Vermittlung nimmt dabei einen wesentlichen Platz ein.
Der Spielraum ist dabei breit, ohne dass die vorgegebene Thematik dabei verwässert würde. Da ist zum Beispiel das Ensemble Mycelium, das den Pilz schon im Namen trägt und das schon frühere Festivaljahrgänge auf unverwechselbare Weise bereichert hat. Die Wurzel dient ihm «als Metapher für unser gegenwärtiges verwurzelt sein in der (realen und virtuellen) Welt, wir verwenden sie als (essbare) Materie (Wurzelgemüse), wir belauschen ihre Verbindungen und Anschlüsse im Kommunikationsnetz pflanzlicher Ökosysteme und wir nutzen sie als mathematische Komponente in der experimentellen Klangbearbeitung.» In «Kompost Klang Küche», so der Titel der Performance, werde die Wurzel zum komplex-imaginären Klang- und Denkraum, denn wenn man aus negativen Zahlen die Quadratwurzel zieht, erhält man imaginäre. So kommen gleich mehrere Bedeutungsebenen ins Spiel.
Dem Ursprung der Arten und mithin auch des Menschen geht das Vokalensemble «SoloVoices» in «L’origine des espèces» des greco-französischen Komponisten Georges Aperghis nach, der lange als Dozent an der Hochschule der Künste in Bern wirkte und das Théâtre musical in der Schweiz wesentlich mitprägte. Andere Konzerte gehen «back to Bach» oder gehen den lokalen Verwurzelungen nach, etwa der Künstlerin Meret Oppenheim, die hier einst in der Schule ihre rebellischen Seiten entdeckte.
Zahlreiche wichtige Schweizer Komponisten stammen aus Bern und besuchten hier einst den Unterricht bei Sándor Veress, so etwa Heinz Holliger, Jürg Wyttenbach oder Roland Moser. Dessen «Brentanophantasien» stehen im Zentrum des Konzerts mit dem Bassbariton Robert Koller. Ausserdem vertont Moser im Auftrag des Festivals einen Text von Mani Matter. Der früh verstorbene Chansonnier aus der Bundeshauptstadt ist ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod immer noch eine Lichtfigur der hiesigen Kulturszene.
Eine andere wichtige Figur der Berner Szene wird im Konzert des Arditti Quartet gefeatured: Daniel Glaus, Komponist und bis vor einem Jahr Münsterorganist. Von ihm erklingt ein neues Streichquartett. Uraufführungen sind so ein wesentlicher Bestandteil des Musikfestival Bern, aber es versteht sich nicht nur als Festival für Neue Musik, sondern bringt immer mehrere Epochen ins Spiel. So erklingt zur Eröffnung etwa Mahlers «Lied von der Erde», in der kammerorchestralen Version von Arnold Schönberg bzw. Rainer Riehn. Peter Rundel leitet ein Kollektivensemble.
Das Musikfestival ist damit stark lokal und regional verwurzelt, sucht aber gleichzeitig den internationalen Vergleich und die Ausstrahlung über den engeren Bereich hinaus. Dies besonders, indem es zum Thema eine*n Composer in Residence auswählt und ein Ensemble einlädt. So gab es in früheren Jahren etwa einen Fokus auf Bernd Alois Zimmermann; Michael Pelzel, das Arditti Quartet oder das Trio Accanto waren zu Gast. Diesen September nun kommt es zu einer aussergewöhnlichen Begegnung. Da ist zum einen die Musik der Französin Éliane Radigue, die in die tiefsten Schichten der Klangerfahrung hinunterreicht; von ihr sind Instrumentalwerke zu hören, aber auch die dreistündige elektronische «Trilogie de la mort». Da ist zum anderen das belgische Vokalensemble «Graindelavoix», das für die Musik des Spätmittelalters und der Renaissance radikal umwälzende Ansätze gefunden hat; sie werden die «Tenebrae» Gesualdos und die Missa «Et ecce terrae motus» von Antoine Brumel aufführen. Beide treffen sich aber auch für ein neuartige Erfahrung: Ein neues Stück der «Occam»-Reihe, entwickelt von Radigue und der Ko-Komponistin Carol Robinson, wird mit Graindelavoix erarbeitet. Bislang gab es im Schaffen Radigues nur wenige Vokalstücke, und Graindelavoix begab sich nur ausnahmsweise in die Neue Musik. Über diesen neuen Ansatz hinaus gelangt man mit der menschlichen Stimme gleichsam zur körperlichen Wurzel des Klangs.
Das Musikfestival Bern versucht damit den Spagat: unmittelbare Klangerfahrung und die Vermittlung von Extremen. Die Kommunikation zum Publikum spielt dabei eine entscheidende Rolle. Zum letztjährigen Thema «unvermittelt» etwa wurde auch das mit dem Zufall geschaffene Klanguniversum von John Cage in einem langen Abend präsentiert, daneben aber auch in einer vermittelnden Installation beleuchtet. In diesem Zusammenhang ist auch die Reihe zu sehen, in der Musik und Wissenschaft aufeinandertreffen: Aspekte des Festivalthemas – heuer zum Beispiel das Woodwideweb oder Mutterschaft – werden dabei herausgegriffen und diskutiert. Ein*e Wissenschaftler*in hält ein kurzes Impulsreferat, ein*e Künstler*in macht ein neues Stück oder eine Performance dazu; dann treten beide Seiten ins Gespräch miteinander. So kam es immer wieder zum anregenden Erfahrungsaustausch.
Thomas Meyer