Claudia Birkholz © Andreas Casp

Wir sprachen mit der Intendantin Claudia Birkholz

Woher kommt Ihre Leidenschaft für die Neue Musik, die Sie selbst als späte Liebe bezeichneten?

So spät war es eigentlich gar nicht. Als Kind und als Teenager habe ich mich natürlich erst einmal auf die Werke von Chopin, Beethoven, Brahms und so gestürzt. Das hat sich geändert, als ich mein Musikstudium an der Hochschule für Künste in Bremen bei Prof. Kurt Seibert aufgenommen habe. Während dieses Studiums – während ich mich also mit den Fugen von Bach und der Tonsatzlehre abmühte – wurde mir eine Tür aufgestoßen. Ich bekam die Chance, in einer Besetzung für zwei Klaviere und zwei Schlagzeuge etliche Werke – auch Auftragskompositionen – in vielen Konzerten aufzuführen. Und in diesen Werken war es „erlaubt“, ungeheuerliche Dinge mit dem Konzertflügel anzustellen! Klänge auf den Saiten zu erzeugen mit Gummibällen, Ketten, Spielkarten und Glaskugeln. Klänge, die ich nie zuvor aus „meinem“ Instrument gehört hatte. Es war eine Wow-Welt, die sich vor mir auftat: Die Welt der Neuen Musik. Aufregend, regellos, spielerisch, humorvoll, unterhaltsam.

Diese Musik bietet so viel. Und es gibt immer wieder Neues zu entdecken.

Toll war es für mich auch – und ist es noch immer – dass ich zu den Erschaffern dieser Werke, den Komponisten, in Kontakt kommen konnte. Antworten bekommen konnte auf Fragen, die sich bei der Erarbeitung der Werke ergaben. Das war so eine Erleichterung. Beethoven konnte ich nichts mehr fragen.

Nach dem Studium habe ich mich entschlossen, mich ganz dieser Musik zu widmen, ausschließlich Werke des 20. und 21. Jahrhunderts auf der Bühne zu spielen.

Weil diese Musik, noch mehr als andere Stilrichtungen, das Live-Erlebnis braucht. Nur so, im Live-Austausch zwischen Künstler:innen und Zuhörer:innen, lässt sich ein Zugang zu der Neuen Musik finden und nur so lässt sie sich genussvoll erleben.

In der Shakespeare Company wird am 19. Mai das Kammerwerk “Alan T.“ des französi- schen Star-Komponisten Pierre Jodlowski über den Mathematiker Alan Turing aufgeführt.

Wie sind die Idee und die Vision für ein neues Festival für Neue Musik in Bremen entstanden?

Ursprünglich hat sich der Verein realtime – Forum Neue Musik gegründet, um als Veranstalter für Neue Musik in Bremen und Umgebung dieser Musik mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Da viele Menschen diese Musik kaum kannten, mussten wir erst einmal diese Menschen neugierig machen und Zugänge auf Augenhöhe anbieten. Das haben wir durch Gesprächskonzerte, Moderationen, Konzerte zu Ausstellungen etc. erreicht. So haben wir die musikliebenden, neugierigen Bremer:innen für uns gewinnen können und haben dann gedacht: Jetzt ist es an der Zeit, etwas Großen zu wagen.

Ein Festival, das noch mehr Menschen auf diese Musik aufmerksam macht. Ein Festival für alle, die Musik einmal anders erleben wollen, die Lust auf etwas Neues haben.

Mit der Hamburger Andi-Otto-Band geht das Festival am 21. Mai mit dem Fello im Schlachthof zu Ende.

Was passiert beim realtime Festival?

Für alle, die neugierig auf etwas Neues sind, haben wir ein Programm entworfen, das etliche  Entdeckungen bereithält.

Dafür haben wir uns ein Thema vorgenommen, das unser aller Alltag immer mehr berührt: Die technische Entwicklung bis hin zur künstlichen Intelligenz. Wir stellen uns die Frage: Wie wird unser Leben, wie wird unsere Kunst in Zukunft aussehen? Unser diesjähriges Motto ist „Mensch – Musik – Maschine“ und das Gastland ist Frankreich. Jeder kann sich bei diesem Festival einen Überblick verschaffen, wie und in welcher Weise technische Neuerungen Einfluss auf die Musik genommen haben. Von der Entwicklung der ersten neuartigen Instrumente über die Erfindung der rein elektronischen Musik bis hin zur Einbeziehung Künstlicher Intelligenz. Es wird Konzerte mit ungewöhnlichen Instrumenten geben, wie zum Beispiel dem „visual piano“ und der „Ondes Martenot“ beim Eröffnungskonzert im Sendesaal oder dem Roboterschlagzeuger in der Weserburg Museum für moderne Kunst und dem „Fello“ im Schlachthof. Einer der vielen Höhepunkte des Festivals wird das Musiktheater „Alan T.“ in der Shakespeare Company sein sowie die Uraufführung des multimedialen Musikwerkes im Rahmen der Preisverleihung des Köster-Preises 2023.

Außerdem im Programm: Tanz- und Lichtshows, experimentelle Konzerte und Late Night-Veranstaltungen mit DJs sowie Mitmachkonzerte und Workshops für Kinder und Jugendliche, Klangspaziergänge und Pop-up-Konzerte. Zahlreiche Open-Air-Aktionen und Pop-up-Konzerte bieten all denen eine Einstiegsmöglichkeit, die bisher noch gar nicht in Berührung mit der Neuen Musik gekommen sind.

Ganz wichtig: Wir möchten, dass unsere Künstler:innen, unser Publikum und wir miteinander in Kontakt kommen. Darum gibt es bei allen Konzerten ein Catering und die Möglichkeit, miteinander, mit den Künstler:innen, den anderen Gästen, den Helfer:innen und Macher:innen des Festivals ins Gespräch zu kommen. So können Fragen beantwortet werden und wir bekommen ein Feedback, was wir verbessern können.

Foto „Nadar Ensemble“: Das Nadar-Ensemble bringt zum Abschluss des Festivals mit „Generation Kill“ ein hochbrisantes Stück von Stefan Prins über Videospiele, Kriegsführung und Manipulation auf die Bühne des Schlachthofs.

Der Start hätte nicht schwieriger sein können. Wie viele Veranstaltungen mussten auch Sie coronabedingt immer wieder verschieben oder reduzieren? Können Sie in diesem Jahr endlich aus dem Vollen schöpfen und vieles von dem umsetzen, was Sie sich vorgenommen haben?

Wir haben einfach losgelegt, unseren Ideen freien Lauf gelassen und hoffen, dass wir dieses Jahr alles so umsetzen können wie geplant.

Wie bringt man die für viele Menschen unzulängliche und sperrige Neue Musik einem breiten Publikum nahe, und welche Tools und „Tricks“ nutzen Sie, um Berührungsängste abzubauen?

Ich habe immer das Bild einer Entdeckungsreise vor Augen. In die Welt der Neuen Musik aufzubrechen ist ein Abenteuer, man weiß nie, was einen erwartet. Und es ist immer gut, eine Reiseführung dabeizuhaben. Diese Aufgabe übernehme ich bei vielen Veranstaltungen durch meine Moderationen. Ich gebe akustische Einstiegshilfen oder erzähle etwas zu dem Werk, das anschließend zu hören ist. Oftmals reicht das schon. Wenn nicht, dann gibt es bei jeder Veranstaltung die Möglichkeit, in einem Meet&Greet mit den Künstler:innen in Kontakt zu kommen und Fragen direkt loszuwerden. Alle erzählen sehr gern von ihrer Arbeit. Ich habe es nie anders erlebt.

Wir haben bei der Planung des Festivals auch darauf geachtet, dass mehrere Sinne angesprochen werden. Wenn ich Bilder zu der Musik sehen kann, dann habe ich gleich einen ganz anderen Zugang. Das ist bei fast allen Konzerten des Festivals der Fall. Es gibt immer auch etwas zu gucken. Und die Faszination eines schlagzeugspielenden KI-Systems wird auch niemanden kalt lassen. Wer sich da genauer informieren möchte, ist bei den TalkTimes mit den Bremer Forscher:innen der Universitäten und des DFKI genau richtig. Zusätzlich haben wir Veranstaltungen, die einfach nur zum Reinschnuppern in die Welt der neuen Klänge einladen: der Klangspaziergang durch die Wallanlagen zum Beispiel, bei dem unter der Leitung eines Audiotherapeuten die Geräusche und Klänge der Stadt erlebt werden können. Oder man kann selbst ein Instrument ausprobieren, das nur mit Armbewegungen gesteuert wird, den Chordeographen. Dieser Einstieg in die Neue Musik ist der Königsweg. Das Selbermachen öffnet sofort Türen.

Theinert © Josh von Staudach

Immer mehr Musiker:innen und Bildende Künstler arbeiten genreübergreifend, finden sich zu neuen Formaten zusammen und nutzen die digitalen Möglichkeiten für neue Ausdrucksformen. Eine spannende Entwicklung oder ein Produkt des Zeitgeists?

Das ist eine natürliche Entwicklung. Komponist:innen waren seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Es entstanden neue Instrumente, elektronische Instrumente wie die „Ondes Martenot“, die beim Eröffnungskonzert zu hören sein wird. Karlheinz Stockhausen hat dann in den 1950er-Jahren die ersten rein elektronischen Stücke komponiert – und wird dafür heute in der Techno-Szene als Vater des Techno bezeichnet. Schon seit den 1970ern erforscht David Cope als einer der Pioniere von KI in der Musik die Re-Kombination von Mustern.

Und all diese neuen Entdeckungen werden immer auch irgendwie künstlerisch verarbeitet. Weil die Künstler:innen sich auf die sie umgebende reale Welt beziehen und ihre Inspiration daraus erhalten. Darum ist die Neue Musik immer wieder faszinierend: Sie greift direkt die uns umgebende Realität, politische und gesellschaftliche Ereignisse sowie technische Neuerungen auf. Und es entstehen immer wieder abgefahrene neue Produktionen. Wie zum Beispiel das Gewinnerprojekt des diesjährigen Köster-Preises. Was diese jungen Leute sich da ausgedacht haben und am 20. Mai uraufführen werden, ist mind-blowing.

Mit dem realtime Festival, der jazzahead, dem Museum Weserburg mit der Sound Collection Guy Schraenen und dem Netzwerk klangpol steckt viel Musik und Klang in Bremen und Umgebung. Hat Bremen das Potenzial, zu einem europäischen Zentrum für Neue Musik und Klangkunst zu werden, und wenn ja, was ist zu tun, Frau Birkholz?

Auf jeden Fall. Wir müssen nur alle an einem Strang ziehen. Gemeinsam können wir etwas bewirken. Gemeinsam können wir das schaffen.

Claudia Janet Birkholz

ist eine im In- und Ausland gefragte Interpretin für Klaviermusik des 20. und 21. Jahrhunderts, Filmproduzentin und Komponistin. Sie konzipiert Programme, mit denen sie sich künstlerisch und musikalisch in neue Richtungen bewegt. Freude am Experimentellen, ein hoher intellektueller Anspruch sowie die Sensibilisierung des Publikums für ungewöhnliche akustische Ereignisse in immer neuen Zusammenhängen machen ihre Konzerte zu besonderen Erlebnissen. Sie ist Dozentin der Hochschule für Künste Bremen, Vorsitzende des Vereins „realtime – Forum Neue Musik“ und künstlerische Leiterin des „realtime – internationales Festival für Neue Musik Bremen“.