Andreas Schaerer
Der Schweizer Musiker Andreas Schaerer, wie er sich selbst am liebsten bezeichnet, ist ein Sänger, Komponist und Dozent an der Hochschule der Künste Bern, mit schier unbegrenzten Möglichkeiten. Er singt, summt, schnalzt, scattet oder beatboxt, dass man ganz gefangen ist von seiner Virtuosität und seinem künstlerischen Ausdruck. Andreas Schaerer tourt als Sänger weltweit intensiv mit verschiedenen eigenen Projekten. Allen voran mit seinem Sextett „Hildegard Lernt Fliegen“, im Duo mit Lucas Niggli, im Quartett „Out Of Land“ mit Emile Parisien, Vincent Peirani und Michael Wollny, in der Band „A Novel Of Anomaly“ mit Kalle Kalima, Luciano Biondini und Lucas Niggli, im Trio mit den beiden Wiener Musikern Martin Eberle und Peter Rom, in Zusammenarbeit mit dem klassischen „ARTE“ Saxophonquartett, sowie mit „Das Beet“. Daneben ist er ein gefragter Studiomusiker und arbeitet in diversen Stilrichtungen von aktuellem Jazz über zeitgenössische klassische Musik bis hin zu Hip-Hop oder der Vertonung von Computergames.
Als Komponist schreibt er neben der Musik für seine eigenen Projekte auch regelmäßig Auftragskompositionen für klassische Ensembles und zeitgenössische Formationen. 2004 und 2005 schreibt er zwei erste Streichquartette, 2013 entsteht die Auftragskomposition „Perpetual Delirium“ für das „ARTE“- Saxofonquartett. 2015 wird Schaerers erstes sinfonisches Werk „The Big Wig“, von dem, von Pierre Boulez gegründeten Lucerne Festival Academy Orchestra am LUCERNE FESTIVAL uraufgeführt. 2017 arbeitet er erneut mit verschiedenen Orchestern zusammen (Lucerne Festival Alumni Orchestra, Jenaer Philharmoniker, Orchestra della svizzera italiana) sein Werk gelangt in der Elbphilharmonie Hamburg, der Philharmonie Essen, dem KKL Luzern und anderen wichtigen klassischen Sälen zur Aufführung. 2018 sind Kollaborationen mit dem Orchestre de Cannes und der Baden Württembergischen Philharmonie geplant. Für 2019 ist ein neues abendfüllendes sinfonisches Werk in Zusammenarbeit mit der Basler Sinfonietta geplant.
Zurzeit ist er mit der Band „A Novel Of Anomaly“ auf großer Release Tour zu der gerade erschienenen CD.
Zwischen zwei Konzerten trafen wir Andreas Schaerer zum Gespräch.
Gerade ist die von Ihnen mit geründete und in diesem Jahr zum elften Mal stattgefundene Jazzwerkstatt Bern zu Ende gegan- gen, wo Sie MusikerInnen und KomponistInnen aus aller Welt, verschiedener stilistischer als auch geogra scher Herkunft zu- sammenführen. Was haben Sie dabei zum ersten Mal in Ihrem Leben gemacht?
Andreas Schaerer: Seit 3 Jahren bin ich nicht mehr involviert in die Organisation des Festivals, mit den ganzen eigenen Konzertaktivitäten wurde das zu viel. Dafür kann ich nun entspannt dem Geschehen als neugieriger Zuhörer lauschen. In diesem Jahr habe ich zum ersten mal in meinem Leben eine wunderbare Kombination von Querflöte und Flügelhorn gehört, welche die feingliedrigen Arrangements des Südafrikanischen Bassisten Shane Cooper spielten. Ein Hochgenuss.
Sänger, Vocalist, Beat-Boxer, Tonkünstler, Stimmeninterpret... Wie bezeichnen Sie sich selbst?
Andreas Schaerer: Die Bezeichnung, das ist so eine Sache. Für mich selber ist das eigentlich nicht so wichtig, je nach Projekt bin ich eher Komponist, traditioneller Sänger oder arbeite z.B mit Mundperkussion. Am einfachsten ist es wohl, wenn ich mich als Musiker bezeichne. Das einzige was ich nicht so mag als Bezeichnung ist „Stimmakrobat“, das hat so etwas sportliches und klingt mir zu sehr nach Zirkus.
Wann haben Sie entdeckt, das Ihre Stimme Ihr Instrument ist?
Andreas Schaerer: Intuitiv war das, so lange ich denken kann, eigentlich immer klar. Ich kann mich erinnern, dass ich als Teenager beim Improvisieren auf der Gitarre, die Melodien in meinem Kopf jeweils sehr klar voraushörte, meine Finger sie aber nicht schnell genug umsetzen konnten. Es war dann naheliegend, die Musik, die ich innerlich hörte, direkt über meinen Körper bzw. die Stimme auszudrücken. Als ich dann später Jazzgesang an der Hochschule studierte, sang ich die ersten 2-3 Jahre vor allem Standards, ganz traditionell. Dabei hat sich meine Aufmerksamkeit kontinuierlich von den Sängern zu den Instrumentalisten verlagert. Ich habe mehr und mehr angefangen „instrumental“ zu denken beim Singen.
Sie hätten aber auch beim Punk und ihrer Band „Hektor lebt“ hängen bleiben könnten? Wieviel Punk steckt noch in Ihnen, und greifen Sie ab und an noch zur Gitarre?
Andreas Schaerer: Naja, der Jazz hat ja per se eine punkige Seite: Das „In-Frage-Stellen“ gängiger Regeln ist Teil des kreativen Prozesses. Als improvisierender Musiker ist man immer auch Anarchist. Jegliche Form von institutioneller Autorität war mir stets suspekt. Man könnte sogar sagen, ich reagierte geradezu allergisch darauf. Autorität hat bei mir immer die Lust auf Provokation geweckt. Früher war das ganz extrem. Ich habe einen Grossteil meines Musikunterrichts in der Grundschule vor der Türe verbracht, weil ich die ganzen verstaubten Schullieder welche wir singen mussten, jeweils spontan ziemlich abgeändert gesungen habe, was natürlich den Unterricht störte. Heute ist das nicht mehr ganz so stark ausgeprägt bzw. ich reagiere etwas entspannter und überlegter.
Die Gitarre hängt bei mir im Wohnzimmer und ich spiele sie nur noch selten, um meinen beiden Kindern ein Stück vorzuspielen oder sie zu begleiten. Ab und zu komponiere ich auf der Gitarre, weil man da auf ganz andere Lösungen kommt als mit der Stimme oder auf dem Klavier.
Wie erarbeiten Sie sich neue Stücke, wie gehen Sie an neue musikalischen Begegnungen wie z.B. auf der gerade erschienenen CD „A Novel Of Anomaly“ mit Luciano Biondini, Kalle Kalima und Lucas Niggli heran?
Andreas Schaerer: Man trifft neue Musiker und spürt, dass da eine Verbindung ist, eine gemeinsame Vision entstehen kann. Bei „ A Novel Of Anomaly“ war das so. Eigentlich waren ursprünglich zwei unterschiedliche Trios geplant, bei denen jeweils Lucas Niggli und ich mit einem Gast spielen wollten. Mehr oder weniger zufällig waren wir dann alle Vier gemeinsam im Proberaum und haben angefangen zu Improvisieren. Der Sog der Musik war augenblicklich. So stark, dass allen Beteiligten klar war „that’s it !“. Oft entstehen neue Projekte aus solchen ungeplanten Momenten, was ich sehr geniesse !
Beim Komponieren für ein Ensemble denke ich dann immer ganz stark auch an die einzelnen Musiker. Es geht mir dabei mehr um den Menschen und seine Eigenheit als Spieler, seine „Temperatur“, als darum welches Instrument er spielt.
Steckt hinter jedem Ton, jedem Laut eine Note, und sitzt bei jedem Konzert der Ton, das Juchzen oder Schnalzen genau an der gleichen Stelle wie eine geschriebene Note? Oder ist jeder Auf- tritt, jede CD-Produktion ein „Unikat“?
Andreas Schaerer: Jede Performance ist ein Unikat. Da ist dauernd Alles in Bewegung. So viele Parameter haben darauf einen Einfluss. Die meisten davon kann man gar nicht beeinflussen: Die eigene Energie und Stimmung, die Mitmusiker, das Publikum, das Land in dem man spielt und die Sprache welche die lokalen Leute sprechen, das Wetter, der Bühnensound, die Träume welche man letzte Nacht hatte, die Schlagzeilen der Tageszeitung, das Pfeifen der Vögel vor der Hotellobby beim Morgenkaffee, die Ruhe beim Spaziergang am Nachmittag, der Verkehrslärm während der Anreise zum Konzert usw... das alles kann dann am Abend auf der Konzertbühne in die Musik eifliessen.
Neben Gesang haben Sie auch Komposition an der Hochschule der Künste Bern studiert. Wären Sie ohne das Studium der Komposition mit Ihre Stimme heute dort wo Sie sind?
Andreas Schaerer: Improvisieren ist ja eigentlich nichts anderes als „Komponieren in sehr schnellem Tempo“. Ich suche stehst eine komponierte Qualität in der Improvisation. Während meinem Studium wurde mir mehr und mehr klar, dass ich eigenes Material komponieren muss, wenn ich meinen eigenen Gesangsstil in die Stücke einbringen will. Man kann zwar sehr offen mit bestehenden Songs und Standarts umgehen, ich hatte aber eine sehr klare Vorstellung von verschiedenen Klangkombinationen. Das zwang mich quasi dazu, selber Material zu schreiben, bei dem ich dies umsetzten konnte. Räume zu entwickeln in denen all die Stimm- Sounds Sinn ergeben.
Was bewegt Sie musikalisch in der Zukunft, was für Projekte, Herausforderungen, Ideen warten auf Sie?
Andreas Schaerer: Im laufenden Jahr sind wir natürlich intensiv mit unserem aktuellen Album „A Novel Of Anomaly“ unterwegs. Neue Ideen gibt es viele. Konkret bin ich daran ein neues Programm für mein Sextett „Hildegard Lernt Fliegen“ zu schreiben, welches Anfang 2020 auf die Bühne kommt. In diesem Zusammenhang ist auch ein neues Album geplant. Daneben stehen diverse Zusammenarbeiten mit klassischen Ensembles im Terminkalender. Ein kammermusikalisches Projekt mit Streichern wird im Herbst 2019 auf die Bühne kommen. Ausserdem arbeite ich an einer neuen Sinfonie für die Basler Sinfonietta, die im Herbst 2020 uraufgeführt wird. Ein weiterer Traum von mir ist es, ein ganzes Album mit Solo Stimme aufzunehmen. Das muss sich aber wohl noch einen Moment gedulden.
Letztes Jahr habe ich einem Konzert Ihres Freundes Kalle Kalima, zusammen mit dem Organisten Andreas Behrendt und dem Vokalensemble Vox Nostra aus Berlin im Kloster Salem beigewohnt. Nachdem ich Sie bei der jazzahead, auch im Zusammenspiel mit Kalle Kalima erlebt habe, haben Sie mir in diesem eh schon spannenden Experiment dem Zusammenspiel aus Orgel, E-Gitarre und Vokalmusik des Mittelalters als „ds Zäni“ noch gefehlt. Sie haben und probieren vieles aus. Von aktuellem Jazz über zeitgenössische klassische Musik bis hin zu Hip-Hop oder der Vertonung von Computergames reichen Ihre Spielfelder. Wäre die Auseinandersetzung, eine Gegenüberstellung oder „Battle“ mit mit- telalterlicher, geistlicher Musik etwas, was Sie schon einmal gemacht bzw. Sie reizen könnte?
Andreas Schaerer: Ich bin grundsätzlich für alles offen. Mit Kalle Kalima spiele ich extrem gerne. Würde er mich für ein solches Projekt anfragen, weiss ich nicht ob ich widerstehen könnte. Gleichzeitig versuche ich mich natürlich nicht all zu sehr zu verzetteln. Man kann nicht auf allen Hochzeiten tanzen. Aber ich geniesse es auch immer wiedermal meine „comfort-zone“ zu verlassen. Wer weiss was da noch alles an neuen Verbindungen auf mich zukommt.
DAS GESPRÄCH FÜHRTE KAI GEIGER.