Steffen Schorn © Roger Hanschel

Komponistenporträt  Steffen Schorn
und seine innere Oper „Camille Claudel“

Jazzbläser-Mastermind Steffen Schorn startet durch! Der Musiker, Komponist und Bandleader, der bereits auf eine dreißigjährige Karriere blickt, hat sowohl als Instrumentalist als auch als Komponist für Auftragswerke dutzende von Ländern und Festivals auf fast allen Kontinenten der Erde bespielt.

Steffen Schorn © Roger Hanschel

Er war Kurator und Gastdirigent des Norwegian Wind Ensemble von 2009 bis 2012, komponierte für viele Festivals an den Schnittstellen von Jazz und neuer Musik, gründete immer wieder eigene Ensembles und erfuhr 2011 eine spezielle Würdigung, als die Danish Chamber Players seiner Musik einen ganzen Abend widmeten. Steffen Schorn ist unter den Großen der deutschen Jazzszene nicht allein wegen eines kurzen explosiven Genreerfolgs stetig weiter aufgestiegen. Seine Talente wurden und werden in den unterschiedlichsten musikalischen Kontexten angefragt und führen immer zu Höchstleistungen. Seine Stationen als Instrumentalist, Komponist, Leiter und Arrangeur von kleinen und großen Ensembles, seine Faszination für Musiken aller irdischen Welten und seine tiefen Einblicke in die rhythmischen Strukturen der Völker unserer Erde haben ihn über die Jahrzehnte zu einem Weltmusiker werden lassen, wie es sie in Deutschland im Grunde gar nicht mehr gibt. Steffen Schorn ist auf dem Weg zur Höhe seiner Kunst. Aktuell erscheint das letzte Werk einer CD-Trilogie mit dem Zurich Jazz Orchestra, und schon steht sein bislang ambitioniertestes und größtes Projekt in den Startlöchern: Camille Claudel – eine innere Oper

In den Jahren 2023 und 2024 wird die internationale Kunstwelt der größten Bildhauerin des ausgehenden 19. Jahrhunderts gedenken: Camille Claudel. Im Jahr 2023 vor 80 Jahren gestorben, wird auch das Jahr 2024 in Erinnerung an ihren 160. Geburtstag reichlich Anlass geben, ihre sagenhafte Kunst zu feiern. Der deutsche Komponist und Multiinstrumentalist Steffen Schorn bereitet seit einigen Jahren eine große abendfüllende Komposition zu Ehren der französischen Künstlerin vor, die bereits in diesem Jahr ihre CD-Einspielung erfahren wird. Wir haben uns mit Schorn über das hochambitionierte Projekt unterhalten.

Andreas Richartz sprach mit Steffen Schorn

Camille Claudel „La Joueuse de Flûte“

Wie kam es zur Idee für das Projekt Camille Claudel?

Als ich 1988 als Musikstudent in Köln den gleichnamigen Film mit Isabelle Adjani sah, war ich nach der Schlussszene, in der Camille Claudel von ihrer eigenen Familie in die Nervenheilanstalt Montdevergues abgeschoben wurde, wo sie 30 Jahre später in Einsamkeit starb, dermaßen mitgenommen und regelrecht verstört, dass ich danach zwei Stunden orientierungslos in die falsche Richtung lief und schließlich zu Hause angekommen aus inneren Horrorbildern eine leiddurchtränkte Sequenz komponierte. Ich habe diese Sequenz dann auf meinem Mehrspurkassettenrecorder aufgenommen und war selbst von der Wirkung so geschockt, dass ich es erst mal beiseitelegen musste – es war einfach too much.

Schon damals wusste ich jedoch, dass ich irgendwann ein abendfüllendes Werk schreiben würde, das sich gewissermaßen „rückwärts“ komponiert, aus der Initial-Keimzelle entwickelt und entfaltet. Das ist nun über 30 Jahre her, so lange, wie Camille Claudel unfreiwillig in der Nervenheilanstalt verbrachte. Zwar tauchte alle paar Jahre der Impuls auf, nun endlich zu beginnen, aber mein rastloses Leben ließ dafür keinen Raum. Vor zwei Jahren drückte ich dann eine Art reset button, begann tief in mich hineinzuhören und spürte diesen dringenden inneren call.

Ruth Wilhelmine Meyer © Rolf Schöllkopf

Wie muss man sich das vorstellen? Wie gestaltet sich der Kompositionsprozess?

Zunächst setze ich mich hin, untersuche das Ausgangsmaterial nach innewohnenden, formbildenden Tendenzen, horizontalen, vertikalen und rotierenden Strukturen, Spiegelungen, Expansionen und Kompressionen etc., entwickle harmonisches, melodisches, rhythmisches und klangliches Material in allen Variationen, erspüre Farben, kreiere Modi und komplementäre Tonräume, die mit meinen inneren Bildern in Resonanz treten.

Dann übe ich diese Strukturen auf verschiedenen Instrumenten, fühle in die Wirkung hinein und versuche, alles in allen Transpositionen auswendig zu lernen. Zwischendurch nehme ich in meinem Studio Klangskizzen auf und experimentiere mit Kombinationen und Verknüpfungsmöglichkeiten. Dies ist zunächst ein strenger und äußerst akribischer, nicht linearer Entfaltungsprozess, der mich immer tiefer in das selbst generierte Klanguniversum eintauchen lässt. Es gibt „Unterbrechungen“, in denen ich einen Schritt zurücktrete, um intuitiv die emotionale Wirkung und den formalen Gehalt zu erfassen und gemeinsam mit der umwerfenden norwegischen Multivokalistin Ruth Wilhelmine Meyer nach einer nonverbalen Ausdrucksform zu suchen, die systemische und seelische Dimensionen miteinbezieht. In anderen Phasen versuche ich, tiefer in historische Inspirationsquellen einzutauchen – lese Texte, recherchiere im Internet, reise und sauge Camille Claudels Arbeiten in mich auf, diese unglaublich ausdrucksvollen Meisterwerke.

Ruth Wilhelmine Meyer © Carl J Asquini

Wie kam der Kontakt zur Vokalsolistin Ruth Wilhelmine Meyer aus Oslo zustande?

Ruth Wilhelmine sprach mich nach einem Konzert in Oslo mit der Band des Tubisten Lars Andreas Haug an und sagte, dass wir beide auf der Bühne wie Seelenzwillinge wirkten – was dann den Namenspaten für unsere Duo-CD „Soul Twins“ ergab. Wir haben uns angeregt unterhalten und spürten gleich einen intensiven Draht. Ich habe dann Aufnahmen von Ruth gehört und war von der einfühlsamen Tiefe, der immensen Vielfalt und Wandlungsfähigkeit ihrer Stimme und der künstlerischen Integrität ihrer eigenen Projekte ungeheuer angetan.

Als es an der Musikhochschule Nürnberg einen Ausfall bei unserem Festival gab und jemand gesucht wurde, um einen Intensiv-Workshop der Jazzgesangsklasse zu leiten und in der Reihe „Art of Jazz“ aufzutreten, dachte ich spontan an Ruth. Da sie keine Jazz-Sängerin ist, sondern aus der nordischen Tradition kommt, gleichwohl aber Improvisation als wichtiges Element in ihrer Musik sieht, war es durchaus ein Experiment, das jedoch total geglückt ist. Während des Workshops und des Konzerts ist der Funke übergesprungen und wir kamen in einen unglaublichen Flow. Da wusste ich: Sie ist es, die die „Hauptrolle“ in meinem neuen Werk singen wird.

Camille Claudel links „Femme accroupie“, rechts "The Implorer (L'Implorante)"

Was hat es mit dem Begriff der „Inneren Oper“ auf sich?

Der abendfüllende Umfang und der „Stoff“ für das dramatische Werk haben alle Merkmale einer Oper. Es gibt jedoch keinen pompösen Bühnenaufbau, keine Figuren mit auferlegten „Rollen“ und vorgefassten Dialogen, keinen linearen Handlungsstrang, sondern verschiedene Szenen, die auf unterschiedlichen Zeit- und Raum-Ebenen miteinander verwoben werden und zu Klangskulpturen verschmelzen. Wobei Atem, Improvisation und Licht eine zentrale Rolle spielen. Die ganze Dramatik entfaltet sich im Inneren: Es entstehen Räume zwischen Stille und Klang, abstrakten Texturen und treibenden Rhythmen, ekstatischer Wonne und pochendem Wahn, extremer Dichte und quälend langgezogenen Passagen. Aber auch pure Schönheit, lyrische Kraft und hemmungslose Sinnlichkeit.

Steffen Schorn © Roger Hanschel

Was für ein Ensemble hast du zusammengestellt?

Für dieses Projekt braucht es Improvisatoren, die Spaß daran haben und in der Lage sind, tief in diesen Kosmos einzutauchen, sich mit dem Material vertraut zu machen und es mit ihrer eigenen Künstlerpersönlichkeit zu beseelen. Es werden höchste instrumentale Ansprüche gestellt, gleichzeitig ist es von zentraler Bedeutung, dass der Sound genug Raum für die Entfaltung der Stimme lässt. Ich habe ein neues zehnköpfiges Ensemble zusammengestellt, das fantastische und mannigfaltige Klangkonstellationen ermöglicht: Harfe, Tasteninstrumente, Flöten von Piccolo bis Subkontrabass, Tuba und Tubax, Klarinetten und Saxophone aller Baugrößen, seltene und exotische Zwischengrößen, weitere Klangerzeuger, soweit der Atem trägt – allein der Instrumentenpark auf der Bühne wird an einen Skulpturengarten erinnern. Alle Ensemblemitglieder sind selbst Bandleader eigener Projekte und haben eine unverkennbar eigene Stimme auf ihrem Instrument entwickelt, können gleichwohl im Gesamtklang verschmelzen und mit rhythmisch souveräner Präzision agieren.

The Norwegian Wind Ensemble © Veronica van Groningen

Wie sehen die nächsten Pläne aus?

Wir werden im November beim Deutschlandfunk in Köln eine CD-Portrait Camille Claudel um 1894 produzieren, Konzerte spielen und auch in meiner alten Heimatstadt Konstanz gastieren, worüber ich mich besonders freue. Zudem gibt es eine konkrete Anfrage für das Symposium „Music and Psychology – Interdisciplinary Encounters“ Ende Oktober 2022 in Belgrad, bei dem ich zusammen mit Ruth Wilhelmine eine Einführung in unsere Arbeitsweise geben werde und mir neue inspirierende Impulse erhoffe. Im Moment bin ich – angeregt durch Kai Geiger – dabei, Kooperationsmöglichkeiten mit immersiver Videokunst, Psychoakustik und Tanz zu eruieren – was spannende, neue und sehr vielversprechende Perspektiven eröffnet.

Ab 2024 ist die Produktion einer Orchesterversion mit dem Norwegian Wind Ensemble geplant, wenn alles klappt u.a. im Munch Museum in Oslo.

www.steffenschorn.de

Texte und das Interview führte Andreas Richartz