Christian Muthspiel © ORF / Joseph Schimmer

Interview mit Christian Muthspiel


Wie viele Runden haben Sie auf dem „Umadum“ (bayerisch für rundherum) schon gedreht?

Bei einer technischen Begehung bin ich gemeinsam mit der Tontechnik-Crew und der Veranstalterin Martina Taubenberger ein paar wenige Runden gefahren.

„Höher, schneller, weiter“ – ein Attribut des Riesenrads. Danielle Muscionico beschrieb das Riesenrad in Ihrer Kolumne in der NZZ wie folgt: „Es ist ein Plädoyer für den Stillstand in der Bewegung, für zweckfreies, unökonomisches Amüsement. Gelassen, unendlich träge dreht es das Rad der Zeit zurück: Was ist das Riesenrad für Sie?

Mir gefällt daran besonders das Attribut „zweckfrei“: Es ist eine vergnügliche Übung in Langsamkeit, eine Gelegenheit, entschleunigte Perspektivenwechsel des Ausblicks wahrzunehmen, ohne „Zweck“ im Sinne von Ökonomie: Allesamt Parameter, die auch auf viele Bereiche der Kunst zutreffen.

Christian Muthspiel © Reiner Pfisterer / Ludwigsburger Schlossfestspiele

Wie haben Sie sich dem Riesenrad, dem Kompositionsauftrag für die erste Riesenradoper der Welt genähert? Was hat es bei Ihnen für Assoziationen, Erinnerungen und Fantasien ausgelöst, und wie ist diese lose Gedankensammlung in eine Komposition geflossen?

Mein erster Gedanke auf die Frage, ob ich mir vorstellen könne, ein Riesenrad zu bespielen, war: „Wenn überhaupt, müsste das ein Werk werden, das zwingend auf diesem Riesenrad aufgeführt werden muss, und nicht die bloße Adaption von Musik, die auch auf einer ,normalen‘ Bühne Sinn machen würde“. Somit war unter anderem relativ schnell klar, dass die Isolation, in der man sich als Gondelfahrer befindet, eine entscheidende Rolle spielen wird. Denn das ist der größte Unterschied zu unseren gewohnten Bedingungen auf Bühnen, in Studios oder Proberäumen: Dass man eben NICHT miteinander kommunizieren kann, indem man die Mitmusiker:innen akustisch und optisch neben sich hat.

Welche Rolle spielte in der Komposition die Geschichte des Areals, auf dem das Umadum steht, dem ehemaligen Industrieareal im Münchner Osten, auf dem die Pfanni-Werke angesiedelt waren und das nach deren Schließung mit dem Kunstpark Ost das Herzstück der Münchener Kultur- und Ausgehszene Anfang der 2000er-Jahre war?

Dieser Aspekt ist in erster Linie in das Libretto von Martina Taubenberger und Axel Tangerding eingeflossen, das aus einer Collage von Texten von T.S. Eliot, Alessandro Barrico, Pablo Neruda und Wallace Stevens besteht. Hier geht es um Themen des Urbanen, um Vereinzelung, um die Größe einer unendlichen Stadt etc. Was die Musik betrifft, war das gigantische Riesenrad als solches mein „Resonanzraum“, egal, wo er sich befindet. Aber natürlich hat andererseits der Inhalt und Klang des Librettos eine deutliche Spiegelung in der musikalischen Gestaltung erfahren.

Orjazztra Wien © Lukas Beck

Wie funktioniert eine Riesenradoper? Wie muss man sich das vorstellen? Was hören, sehen, erleben die Besucher?

Die Versuchsanordnung gestaltet sich folgendermaßen: Die Musiker:innen sitzen einzeln in den 27 Gondeln und werden über Mikrofone abgenommen und über Funkstrecken (man kann ja auf einem Riesenrad nichts verkabeln) zu einem Mischpult gesendet. Die Musiker:innen sind also isoliert von den anderen und hören den Rest des Orchesters nur sehr rudimentär über einen Kopfhörer. Die Partitur organisiert sich weder über ein gemeinsames Tempo noch über einen Dirigenten, noch über musikalische Reaktionen zwischen den Musikern, sondern nach synchronisierten Stoppuhren. In den Noten stehen also genaue Zeiten, wann was zu spielen/singen ist, ohne dass man auf die anderen reagieren kann. Nur die Zuhörer:innen am Platz vor dem Riesenrad, wo der Gesamtklang über eine hochwertige Tonanlage übertragen wird, hören das Ergebnis, hören die Summe der 27 Stimmen. Zusätzlich kann das Publikum aber auch in eine Gondel einsteigen und eine Runde (ca. 15 Min.) mitfahren, und hört dann nur das, was in dieser spezifischen Gondel erklingt, also nur eine von 27 Stimmen. Somit kann man ein reizvolles Wechselspiel von „Individuum und Kollektivum“ erleben. Das Thema Isolation versus Gesellschaft/Gemeinschaft hat natürlich durch Corona nochmals an Bedeutung gewonnen, obwohl das nicht der Ursprung des Projektes, das schon vor der Pandemie in Planung war, gewesen ist.

Sie fordern und realisieren die Oper mit Ihrem eigenen 2019 gegründeten ORJAZZTRA Vienna, das sich hauptsächlich aus jungen Musiker:innen aus Österreich zusammensetzt. Wie und mit welcher Idee und Vision kam Christian Muthspiel zu ORJAZZTRA?

Seit meinem Weggang vom berühmten „Vienna Art Orchestra“ vermisste ich die Energie und Wucht und den Farbenreichtum eines Jazzorchesters. 2019 habe ich mich dann endlich, nach vielen Projekten in kleinen Formationen (Solo, Duo, Trio, Quartett, Sextett) an die Gründung meines „eigenen“ Jazzorchesters gewagt, um mich einerseits von einigen der besten jungen Musiker:innen der österreichischen Jazzszene inspirieren zu lassen und mir andererseits auf diese Art eine Spielwiese für meine Kompositionen zu schaffen. In der „Stammbesetzung“ sind es 17, für das Riesenradprojekt, um zehn erweitert, 27 Mitwirkende: drei Sängerinnen und 24 Instrumentalist:innen.

Christian Muthspiel © Ursula Kaufmann

Wie bereitet man ein junges Ensemble auf solch ein Konzertexperiment vor?

Indem – wie bei allen Projekten – alle rechtzeitig das Notenmaterial erhalten, um sich vorzubereiten und dann ausgiebig geprobt wird, was zuerst für zwei Tage im Proberaum und dann für zwei weitere Tage im Riesenrad selbst geschehen wird. Das wird allerdings in vielerlei Hinsicht ein großes Experiment, weil so ziemlich alle erprobten Formen des Kommunizierens während der Proben nicht funktionieren werden. Da werden wir alle improvisatorisch sehr gefordert sein, nicht nur im Sinne musikalischer Improvisation. Ein weiteres Kriterium bei der Besetzung waren auch die Themen Höhenangst und Klaustrophobie: Nicht alle, die ich in der ersten Einladungsrunde dabeihaben wollte, konnten aus diesen Gründen mitmachen.


Ist die Technikaffinität junger Menschen dabei von Vorteil?

Bei diesem Projekt auf jeden Fall, da man nicht zuerst einmal Berührungsängste mit der hochkomplizierten Technik dieses Projektes abbauen muss.

© Ivan Bilz

Wie muss man sich die Entstehung, den Ablauf, die Proben, die Verknüpfung von Musik, Mensch und Technik vorstellen?

Es ist sehr wichtig, mit einem vertrauten Tontechnik-Team zu arbeiten. Mein Tontechniker betreut mich seit 16 Jahren bei allen Konzerten und Produktionen. Er ist genauso wichtig wie die Musiker:innen. Das Team vor Ort ist hochambitioniert und sehr erfahren. Ich bin guten Mutes, dass alles wie geplant funktionieren wird, wiewohl ich im Probenplan technische Probleme einkalkuliere. Denn niemand hat Erfahrung mit dieser so speziellen Situation. Und: Ich habe erst konkret zu komponieren begonnen, nachdem die technischen Parameter feststanden, um mir nichts vorzunehmen, was dann am Ende nicht realisierbar ist.

Bei so viel Technik gibt es für den Tag X einen Plan B?

Nein – das ist ja das spannende Momentum. Es ist wie Klettern ohne Seil, mit dem großen Vorteil, dass man dabei sein Leben nicht riskiert.